Thomas Kessler war immer ein Liebling der Medien. Einerseits, weil der Stadtentwickler sich oft und gerne auch zu Themen geäussert hat, die nicht direkt in seine Zuständigkeit fielen, andererseits, weil er dies sehr pointiert und meist fundiert tat. Rücksicht hat er dabei selten genommen. Sein unfreiwilliger Abgang aus dem Präsidialdepartement ist der Beweis, dass Kessler dabei vielen auf den Schlips getreten ist. Aber was hat er gesagt?
Die ganze Schweiz redet 2014 über Migration, getrieben von der SVP-Zuwanderungsinitiative. Und was sagt Thomas Kessler? Es werde «eine komplett verdrehte Debatte» geführt, die die Realität verkenne. Aus einem Interview mit der TagesWoche:
«Die Einwanderung ist nicht viel höher als vor der Personenfreizügigkeit; ohne Arbeitsplatz kommt kaum jemand. Die Motive für die Migration sind klar. Auch jene, die aus Griechenland oder Spanien kommen, sind Akademiker, weil sie wissen, mit ihren Qualifikationen bekommen sie hier eine Stelle. Das sind keine Hilfskräfte oder Analphabeten. Die bleiben lieber in ihrem Dorf. Dass jetzt die Verlumpten kommen, ist ein Märchen.»
«Die Gründe dafür, dass so viele Leute gleichzeitig morgens in den Zug steigen, sind kultureller und sozialer Art: Man will zusammenkommen und sich zeigen. Viele Arbeitnehmer leben auch alleine. Die freuen sich auf die erste Kaffeepause, der 7.30-Uhr-Stress ist dann das erste Thema in der Kaffeepause.»
Thomas Kessler ist auch zu seinem wirklichen Thema befragt worden – der Stadtentwicklung. 2015 auch von der TagesWoche zur Frage: Wie weiter mit dem St. Johann?
«Generell gibt es in Basel einen Überhang – viele Arbeitsplätze, wenig Wohnraum. Diesen Zielkonflikt können wir nur mit mehr Verdichtung aufheben.»
«Viele denken, es sei total hip, in der Stadt gleich neben einer Fabrik zu wohnen – und dann finden sie es nach drei Monaten doch nicht mehr so toll, wenn die Lastwagen kommen.»
«In jeder zweiten Wohnung wohnt ein Mensch für sich allein, die Raumansprüche sind auf einem Allzeithoch. Mit der höheren Lebensqualität steigt aber nicht die Toleranz, sondern die Anspruchshaltung.»
«Heute werden die Leute hingegen nicht mehr von existenziellen Problemen, sondern von ihren eigenen Ansprüchen herausgefordert. Wenn es heute bereits Einsprachen gegen Nutzungen durch ein ‹quartierfremdes Publikum› gibt und beliebte Gartenbeizen schon um 20 Uhr schliessen müssen, wirds doch absurd.»
«Es ist rührend, wenn vermeintlich Progressive die Konservativen überholen mit ihrer Verherrlichung des Status quo.»
National hat sich Thomas Kessler den Ruf eines Migrationsexperten erarbeitet. Der «Tages-Anzeiger» hat ihn 2012 in dieser Rolle befragt. Die Ankündigung dieses Interviews spricht für sich: «Thomas Kessler sagt, von der Schweizer Asylpolitik profitierten heute die Falschen. Er fordert einen Umbau unter linker Führung.»
«Aus gesundem Menschenverstand ist eine Verrechtlichung geworden und eine immer ausgeklügeltere Administration; wir delegieren unsere Asylprobleme an die Justiz und Verwaltung. Es herrscht ein Wunderglaube an juristische Lösungen für komplexe menschliche Probleme.»
«Wir sollten die Beziehungen zu diesen Ländern intensivieren. Die naive Schweizer Papierlogik bringt nichts. Abkommen nützen nur, wenn sie durch enge Beziehungen gestützt werden. Das gilt sogar im Schengen-Raum.»
«Die heutige Situation pervertiert den Flüchtlingsbegriff. Wir haben Arbeits- und Abenteuermigration auf Kosten der wirklich Verfolgten. Das müsste doch die SP auf den Plan rufen: Sie müsste die erste Partei sein, die aus Solidarität mit den wirklich Betroffenen ausruft.»
2016 durfte Kessler im «Tages-Anzeiger» nachdoppeln zu den Fragen: Wann sollten Migranten eingegliedert werden? Und warum ist die Schweiz besser aufgestellt als viele andere Länder?
«Migranten müssen das Wesen ihres Aufnahmelandes verstehen. Das Wesen der Schweiz ist die Regelkonformität. Diese Kultur müssen wir Migranten durchgehend vorleben.»
«Gerade junge Männer brauchen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus eine klare Tagesstruktur. Die Schweiz definiert sich calvinistisch über die Arbeit: Wer arbeitet oder anderweitig beschäftigt ist, nimmt an der Gesellschaft teil. Die Schweizer Bevölkerung ist grundsätzlich hilfsbereit, gleichzeitig ist sie empfindlich gegenüber Missbräuchen. Auch deshalb brauchen wir in der Integrationspolitik einen funktionierenden, starken Staat. Er ersetzt quasi den fehlenden Vater.»
«Die Schweiz ist seit 1870 ein Einwanderungsland, wir sprechen offen über Migration und stimmen ständig darüber ab. Unser Bezug zur Migration ist nicht romantisch, sondern pragmatisch – man könnte es auch eine provinzielle Skepsis nennen.»
Auch die Kollegen von «Watson» haben das Potenzial des Stadtentwicklers als Experten bald erkannt. Sie interviewten Kessler 2015 zur Bass-Debatte in Basel.
«Spiesser sind nicht nur Behörden und Anwohner, die den Lärm verbieten wollen, sondern auch diejenigen, die sich für progressiv halten, aber auch einen Gartenzwerg in sich haben.»
Die Anschlussfrage war auch ein Steilpass für ihn: «Sind wir denn nicht anständig?», fragte «Watson».
«Nein. Im mediterranisierten Nachtleben noch nicht ganz. Wir sind erst auf dem Weg vom grölenden alemannischen Waldmenschen zum kultivierten urbanen Lateiner.»
Überhaupt sprach Thomas Kessler gerne und viel über die Mediterranisierung der Stadt Basel. Auch in der «Basler Zeitung» – zum Beispiel 2010:
«Das Bewusstsein, dass sich das Freizeitverhalten in einer engen Stadt von dem an einem Waldfest unterscheiden soll, ist gewachsen. Wir geniessen alle die Mediterranisierung, nur gehören dazu nicht nur Konsum und Ego, sondern Urbanität im Wortsinn: kultivierte weltmännische Art in städtischer Atmosphäre. Auf zivilisierte Art kann man sich auch nachts amüsieren, ohne dabei Kinder aufzuwecken und Unrat zu hinterlassen.»
«Die Stimmen der tragenden gesellschaftlichen Kräfte, die Ideen liefern und schliesslich auch die finanziellen Mittel zur Verfügung stellen, fehlen heute weitgehend. Die Misanthropen und Bedenkenträger dominieren die öffentliche Wahrnehmung. Die Stadt Basel ist aber dank genialen Projekten und weitsichtigen Investitionen zu dem geworden, was sie heute ist.»
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Warum Kessler gehen muss? Die Recherche der TagesWoche
Was sagt die Politik zum Abgang des Stadtentwicklers? Die Reaktionen auf den Abgang
Aber war Thomas Kessler und wie hat er funktioniert? Ein Porträt: Der Abenteuerbeamte
Und der Paukenschlag, die Meldung: Stadtentwickler Thomas Kessler tritt zurück – Ackermann nicht involviert