Sechs Menschen kamen in Venezuela während der vergangenen Tage bei Protesten ums Leben. Regierung und Opposition suchen die Verantwortung für die gewalttätigen Unruhen jeweils im gegenteiligen Lager. Uneinigkeit unter den Regierungsgegnern verschärft die Situation.
Es gibt zahlreiche Fotos der venezolanischen Schönheitskönigin Génesis Carmona. Aber es wird ausgerechnet das letzte Bild von ihr sein, das der Öffentlichkeit in Erinnerung bleiben wird: Schwerverletzt wird die 22-Jährige in den Armen eines Unbekannten auf dem Rücksitz eines Motorrads in ein Krankenhaus gebracht. Nur wenige Stunden nachdem das Foto aufgenommen wurde, erliegt sie in der Industriestadt Valencia ihren schweren Kopfverletzungen.
Carmona ist das jüngste Opfer der Unruhen in Venezuela. Am 19. Februar wurde sie während eines Protestmarsches gegen den sozialistischen Präsidenten Nicolás Maduro tödlich von einer Kugel getroffen. Insgesamt sechs Menschen sind in Venezuela seit vergangener Woche bei Protesten ums Leben gekommen.
López stellt sich
Erst am Vortag hatte sich in Caracas der Oppositionspolitiker Leopoldo López nach einem tagelangen Katz-und-Maus Spiel den Behörden gestellt. Per Haftbefehl war er gesucht worden – Anklage: Beschädigung öffentlichen Eigentums, Brand- und Unruhestiftung, Mordversuch aus «niederträchtigen Gründen» und Terrorismus. Ein Haftrichter hat mittlerweile zumindest die Anklagepunkte Mordversuch und Terrorismus fallen gelassen. Dennoch muss der radikale Oppositionspolitiker vorläufig in Haft bleiben.
López schiebt die Schuld für die gewalttätigen Auseinandersetzungen auf den venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro. Weder findet dessen Regierung eine Lösung für die Rekordinflationsrate von mehr als 50 Prozent, noch kann er der Öffentlichkeit die permanente Lebensmittel- und Verbrauchsgüterknappheit erklären. Dazu kommt eine kaum zu kontrollierende Kriminalitätsrate: Laut der mexikanischen NGO «Seguridad, Justicia y Paz – Sicherheit, Justiz und Frieden» hat Caracas die zweithöchste Mordrate weltweit, übertroffen nur von San Pedro Sula in Honduras.
Gespaltenes Land
Im Jahr 2014 ist Venezuela politisch ein tief gespaltenes Land. Die regierende Linke und die oppositionelle Rechte halten sich hinsichtlich ihrer Wählerstärke nahezu die Waage. Zwar hatte Nicolás Maduro im vergangenen April das Präsidentenamt gegen den gemässigten Oppositionellen Henrique Capriles gewinnen können, allerdings denkbar knapp: Lediglich ein Prozentpunkt trennte die beiden Politiker.
Capriles‘ Verdienst sei es gewesen, so wurde er gelobt, die zerstrittene Opposition nach einem Jahrzehnt vereint zu haben und erstmals nach dem gescheiterten Putschversuch gegen Hugo Chávez im Jahr 2002 eine ernstzunehmende politische Gegenkraft zu Chávez‘ sozialistisch-bolivarianischer Revolution geschaffen zu haben.
Seit Januar jedoch hat sich die politische Landkarte Venezuelas verändert. Leopoldo López, ehemaliger Bürgermeister von Chacao, einem gut situierten Stadtteil der venezolanischen Hauptstadt Caracas, kehrt als aktiver Protagonist nach einer Pause von sechs Jahren auf die politische Bühne zurück.
Nach Korruptionsvorwürfen wurde ihm im Jahr 2008 vom Obersten Rechnungsprüfer Venezuelas das Ausüben öffentlicher Ämter bis 2014 untersagt. Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte anschliessend das Berufsverbot, da eine derartige Strafe nach Ansicht der Richter von einem ordentlichen Gericht hätte verhängt werden müssen. Zu den Korruptionsvorwürfen gegen López äusserten sich die Richter allerdings nicht. Das Oberste Gericht Venezuelas wies die Entscheidung des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte daher zurück und hielt sich nicht an dessen Empfehlungen.
Gespaltene Opposition
Gerechtfertigt oder nicht: López konnte wegen des Berufsverbots weder im Oktober 2012 in den Wahlkampf gegen Hugo Chávez ziehen, noch konnte er nach dessen Tod im vergangenen Jahr gegen Nicolás Maduro antreten. Anstatt die venezolanische Opposition zu schwächen, führte so die erzwungene politische Abwesenheit López‘ zu einer Einigung, die Henrique Capriles vor zehn Monaten fast den Wahlsieg eingebracht hätte.
Mit seiner Rückkehr auf die politische Bühne jedoch spaltet der Hardliner López nun die Opposition. Auf Grund des knappen Wahlergebnisses, kritisieren seine Anhänger, hätte Capriles die Niederlage an den Wahlurnen letztes Jahr niemals akzeptieren dürfen. Statt dessen hätte er das Wahlergebnis anfechten müssen, so glauben sie.
Die Standpunkte der beiden Oppositionspolitiker könnten nicht unterschiedlicher sein. Während López seine Anhänger auffordert gegen die Regierung Maduros zu protestieren, mahnt Capriles zur Besinnung. Nicolás Maduro, so meint er, könne man nicht durch Proteste dazu zwingen zurückzutreten.
Jagdszenen in den Strassen Caracas‘
Nationalgarde und oppositionelle Studenten liefern sich in den Strassen Caracas‘ seit mehr als einer Woche erbitterte Strassenschlachten. Alejandro Cegarra, Fotograf der Nachrichtenagentur Associated Press, berichtet täglich von den Auseinandersetzungen. Die Härte, mit der diese geführt werden, erstaunt den jungen Venezolaner. «Selbst mit Tränengas schafft es die Nationalgarde kaum noch, die Demonstranten zu kontrollieren», weiss der Fotograf. «Schusssichere Weste, Helm und Gasmaske gehören diese Tage zu meiner Grundausrüstung», erklärt er.
«Die Gewalt nimmt auf beiden Seiten zu», fährt Alejandro Cegarra fort. Amateurvideos, veröffentlicht auf Youtube, zeigen Uniformierte, die regelrecht Jagd auf demonstrierende Jugendliche machen – mittlerweile kommen dabei fast immer Schusswaffen zum Einsatz. Der AP-Fotograf hat zwischenzeitlich aber auch immer öfter Gruppen oppositioneller Studenten gesehen, die es schaffen, der Polizei solange Widerstand zu leisten, bis diesen Tränengas und Munition ausgehen. Ihren Rückzug müssen die Polizisten dann mit den demonstrierenden Studenten verhandeln.
Die Gunst der Wahlstimmen
In Venezuela gibt es im Augenblick weder eine klare Mehrheit zugunsten der Regierung noch der Opposition. Selbst die Meinung eines relativ kleinen Bevölkerungsanteils kann deshalb bereits ausreichen, um die Machtverhältnisse zu verschieben.
Die Anklagepunkte Mord und Terrorismus konnte die Staatsanwaltschaft gegen López nicht aufrecht erhalten. Das lässt den Schluss zu, dass der Oppositionspolitiker nur eine sehr begrenzte Zeit inhaftiert bleiben wird. Der Versuch der venezolanischen Regierung, Leopoldo López anzuklagen, und damit erneut von der politischen Landkarte zu eliminieren, könnte daher eine fatale Fehlentscheidung Maduros gewesen sein.
Selbst wenn López nur wenige Tage inhaftiert bleiben würde, das Gefängnis wird er anschliessend mit einem Märtyrer-Image verlassen. Und genau dieses Bild könnte ihm die nötigen fehlenden Anhänger einbringen, um die Waagschale zu seinen Gunsten ausschlagen zu lassen. Zunächst innerhalb der Opposition und später dann auch gegen die Regierung Maduros.
Henrique Capriles, im Gegensatz zu López, hatte sich bereits vor den Unruhen bereit erklärt, mit der sozialistischen Regierung zusammenzuarbeiten. Dass Leopoldo López das gleiche täte, ist nur schwer vorstellbar. Die Situation eskalieren zu lassen und den Oppositionspolitiker López mit einer juristisch unhaltbaren Anklage zu konfrontieren, war deshalb sicher keine gute Idee von Nicolás Maduro.
Die Unruhen in ihrer Heimat treiben auch in der Schweiz lebende Venezolaner auf die Strasse. Mit Kundgebungen in Basel, Bern und Genf wollen sie auf die Menschenrechtsverletzungen in Venezuela aufmerksam machen:
· Bern: Waisenhausplatz, Samstag, 22. Februar von 10 bis 12 Uhr
· Genf: Place des Nations, Samstag, 22. Februar von 10 bis 14 Uhr
· Basel: Birsköpfli, Samstag, 22. Februar 2014 ab 15 Uhr