Totentanz der Finger – die Geschichte des Kletterns in Basel

Der Basler Jura ist eines der dichtesten Klettergebiete Europas. Viele Routen tragen aussergewöhnliche Namen wie Nirwana oder Totentanz der Fingerspitzen. Die Geschichte der Namen ist die Geschichte der Kletter-Szene in der Region. Unser Autor erzählt sie in Routennamen.

(Bild: Olivier Christe)

Der Basler Jura ist eines der dichtesten Klettergebiete Europas. Viele Routen tragen aussergewöhnliche Namen wie Nirwana oder Totentanz der Fingerspitzen. Die Geschichte der Namen ist die Geschichte der Kletter-Szene in der Region. Unser Autor erzählt sie in Routennamen.

Rund um Basel erstreckt sich eines der dichtesten Klettergebiete Europas. Viele grossartige Gebiete liegen in Velodistanz voneinander und der Stadt entfernt. Die Blütezeit jedoch liegt bereits etwas zurück in den 1980er- und 1990er-Jahren. Lokale und internationale Spitzenkletterer haben in diesen Jahren an den Felsen rund um Basel viele, zum Teil äusserst schwierige Routen erschlossen. Jede Route hat einen Namen, die ihr jeweils der Erstbegeher verleiht. Untitled gibt es nicht.

Das Prinzip kennt man aus der Biologie. Dem Entdecker einer Pflanzen- oder Tierart steht es offen, diese zu benennen. Ausser dem eigenen Namen, was als narzisstisch gilt, gibt es kaum Einschränkungen. So heisst ein Käfer, der 2002 in Costa Rica entdeckt wurde und auffallend kräftige Beine hat, Agra schwarzeneggeri. Oder eine Wespenart, deren Larven sich im Hinterleib von Raupen entwickeln, worauf sich diese krümmen und winden, Aleiodes shakirae.

Die Namen sagen mindestens so viel über die Forscher wie über die Tiere aus. Ähnlich verhält es sich mit der Bezeichnung von Kletterrouten. Zwischen 1980 und 1997 wurden in einem langanhaltenden Erschliessungsboom im Basler Jura, wie das Klettergebiet rund um Basel genannt wird, weit über 1000 Routen eingebohrt. Name, Erstbegeher, Schwierigkeit und genaue Ortsangabe sind in dem «Fluebible» genannten Kletterführer der Region gesammelt. Eine kleine Auswahl daraus eignet sich hervorragend, um an ihrem Beispiel die lokale Klettergeschichte zu erzählen.




Anzahl der Erstbegehungen im Basler Jura zwischen 1950 − 1997. (Bild: Fluebible)

Der Anfang war sec – Gempenpfeiler und Südgrat

Die Felsbänder in den Wäldern um Basel ziehen sich manchmal über Hunderte Meter weit. Hoch hingegen sind sie nicht und überragen nur selten 30 Meter. Lange bevor jemand vom Klettern sprach und darin gar einen Sport sah, müssen Jäger und Bauern, Förster und Pilzsammler die Hände zu Hilfe genommen und so die Felsen an ihren Schwachstellen überwunden haben. Als in den 1950er-Jahren ein paar wenige zum ersten Mal den Fels selbst zum Ziel machten, unterschied sich ihr Denken gar nicht so fest von dem ihrer Vorgänger.

Auch diese frühen Kletterer waren geprägt vom Gedanken der Hindernisüberwindung. Nur waren ihre Ziele nicht die Waldgebiete und Wiesen oberhalb der Jurafelsen, sondern Hunderte Meter über dem Tal thronende Alpengipfel. Der Zusammenhang mit den verhältnismässig kümmerlichen Felsen um Basel liegt darin, dass sich diese als nahe Trainingsmöglichkeit für lokale Bergsteiger eigneten. In einer Zeit, in der gar in den Alpen vor allem der Gipfel und weniger der Weg dorthin zählte, wurden diese Routen deshalb vor allem mit geo- und topografischen Namen bezeichnet. Auch der Name des Erstbegehers war nicht selten. So lauten die Basler Routennamen aus dieser Zeit etwa Gempenpfeiler, Südgrat oder Benderpfeiler. Letzterer nach Eugen Bender benannt, einem der aktivsten Basler Bergsteiger der 1950er- und 1960er-Jahre.

Die ideologische Bewegung und ihr «Nirwana»

Mitte der 1970er-Jahre fand eine neue Generation, enttäuscht von der modernen Leistungsgesellschaft, den Weg an die Felsen. An ihnen fanden sie einen respektvollen Umgang mit Natur und Mitmenschen. Es war die Freiheit, nach der sie sich sehnten. So veränderte sich auch der Kletterstil. Statt sich an Haken hochzuziehen, versuchten sie durch Geschicklichkeit und Kraft, frei von zusätzlichen Hilfsmitteln, hochzukommen. Das Seil diente nur der Sicherung. Nach amerikanischem Vorbild verwendeten sie zur Absicherung wieder entfernbare Klemmkeile statt Schlaghaken.

Es war der respektvollste Umgang mit der Natur. Keine Spuren hinterlassen. So hiess 1978 der erste Meilenstein dieser neuen Klettergeneration, die kletternd den Ausbruch aus einer verhassten Leistungsgesellschaft suchte, Nirwana. Neun Jahre vor Cobain gelang ihnen oberhalb von Duggingen an der Falkenfluh die Flucht vor der Ich-Sucht und dem modernen Dasein mit all seinen Zwängen.

Doch dieses Dasein währte nicht lange, denn die Leistungsgesellschaft holte sie ein. Die Route T-18 verweist auf den gleichnamigen Autobahnzubringer, für den ein Grossteil des Naturgebiets Reinacher Heide überbaut wurde, Metzerstrasse 59/61 auf den gewaltsamen Abriss der beiden besetzten Häuser im Basler St.-Johann-Quartier, das AJZ-Dach, wie bereits die beiden vorhergehenden, im Pelzmühletal bei Grellingen gelegen, auf die Schliessung des Autonomen Jugendzentrums in der Nähe des Zürcher Bahnhofs und die folgenden gewaltsamen Jugendunruhen, die sich über die ganze Schweiz erstreckten.

Der Wechsel zum Leistungssport und der «Totentanz der Fingerspitzen»

Obwohl diese Bewegung im Verlauf der 1980er-Jahre immer wieder aufflammte, war sie in der Basler Kletterszene schon bald kein Thema mehr. Ein paar junge Kletterer, die keinen Bezug zur anarchistisch-ideologischen Gesinnung ihrer Vorgänger hatten, begannen Anfang der 1980er-Jahre mit einem Leistungsklettern, das bezüglich der Schwierigkeiten, alles bisher Gekannte überstieg. Während Klettern zuvor als Metapher des Lebens diente, war es nun zum Leben selbst geworden.

Ein Leistungssport, der so intensiv betrieben wurde, dass kaum noch Zeit für anderes blieb, und den Körper an seine Grenzen brachte. So verweisen Routennamen wie Totentanz der Fingerspitzen oder Ringe der Kraft, Letzterer ein Hinweis auf die Ringbänder der Finger, die besonders anfällig auf Maximalbelastungen sind und deren Riss eine häufige Kletterverletzung darstellt, auf die körperliche Extrembelastung. Doch nicht nur der Körper wurde einem Belastungstest unterzogen, auch der Geist kam an seine Grenzen.

Die Route zwischen Tonal und Nagual (Schwierigkeitsgrad 7c+ – mehr dazu) in der Tüfleten 1984, eine der ersten in der Schweiz in diesem Schwierigkeitsgrad, verweist auf die Verbindung von Körper und Geist. Über den Schriftsteller und Ethnologen Carlos Castaneda vermittelt, stellt das präkolumbianische Tonal den Verstand dar, während das Nagual auf die Grenzen dieses Verstands und darauf hinweist, dass es etwas gibt, das darüber hinausreicht.

Vielleicht ist es diese kletternde Verbindung von Körper und Geist, die schliesslich zu einem ausserordentlichen Willen und dadurch ebensolchen Leistungen am Fels führte. Ähnlich argumentiert auf jeden Fall der Franzose Antoine le Menestrel, der 1986 mit der Route Ravage (8c) am Chuenisbergli bei Blauen die damals schwerste Route der Welt kletterte. In der «Fluebible» schreibt er: «Mon souffle tel un ouragan ravagea ma force – Wie ein Orkan marterte mein Atem meine Kraft.» Es ist wiederum eine Verbindung, diesmal zwischen Atem und Kraft, die zu einem Gefühl übermenschlicher Leistungsfähigkeit führt. Genussmittel, denen die Kletterer nicht abgeneigt waren, trugen ihren Teil dazu bei.




1984 fand sich die Schweizer Kletterelite zum Kletterfestival Balmchopffest bei Nunningen zusammen. (Bild: Fluebible)

Das Streben nach immer höheren Schwierigkeiten führte aber auch zu Zwangserscheinungen. Klettern hat sich mit dieser Generation, die zeitgleich in ganz Europa und den USA ähnliche Formen annahm, zu einem modernen Leistungssport mitsamt seinen Schattenseiten entwickelt. So schreibt Patrick Andrey 1986, ein damals aktiver Basler Kletterer in der «Fluezytig», dem Vorgänger der «Fluebible»: «Eigentlich trauern die meisten Kletterer den alten Zeiten nach, aber kaum einer will oder kann mehr die Entwicklung rückgängig machen, weil er selbst in den Wirbel des Leistungsvergleichs gesogen wird, selbst mitklettert, mittrainiert, besser werden will.» Die Route Régime diétetique am Balmchopf bei Nunningen erzählt davon.

Um sie klettern zu können, hat sich Wenzel Vodicka, einer der stärksten Basler Kletterer jener Zeit, einer strengen Diät unterzogen. Der Gewichtsverlust sollte zum Erfolg führen. 1985 schnappte ihm schliesslich ein Pariser Feriengast die Erstbegehung weg und so erhielt die Route den Namen, der auf die beiden Faktoren hinweist.

Der Sog, den eine Route entwickeln kann, zeigt Eric Talmadges Langzeitprojekt Im Reich des Shogun (9a) an der Tüfleten bei Dornach. 13 Jahre arbeitete er daran, bis er sie 2001 endlich klettern konnte. Es war zeitgleich das Ende seiner Kletterkarriere. Und er beschreibt die Route so: «Shogun hat eine derart grosse Bedeutung in meinem Leben eingenommen, dass sie zu meinem Reich wurde.» Er verweist damit auf den Titel des Shogun, welchen Anführer aus dem Kriegeradel der Samurai trugen.

Der Elsässer Franck Andolfatto klettert den ersten Teil (8c) von Talmadges Im Reich des Shogun (9a).

Shogun, 8c (Tüfleten, Suisse) from EscaladeAlsace on Vimeo.

Der Bohrfanatismus und Namen zwischen Fäkal und Genital

Mit der Akkubohrmaschine fand Mitte der 1980er-Jahre eine technische Neuerung Einzug in die Kletterszene, die die Routenanzahl dramatisch in die Höhe schnellen liess. Besonders die späteren Macher der «Fluebible», Mike Tscharner, Andi Luisier und Patrick Andrey kamen in den Bohrwahn. Die Bezeichnung ist keine Fremdzuschreibung meinerseits. Das Gebiet Borowan bei Himmelried verweist darauf und Routennamen wie Bohrdell oder Bohrgasmus zeugen von einer leicht angebohrten Verfassung.

Die enorme Routenanzahl ist sicherlich ein Grund für die Routennamen, die sich meist im Fäkal- und Genitalbereich bewegen. Ein anderer jedoch ist der lockere Zugang der drei Hauptbohrer in jener Zeit. Die Ernsthaftigkeit, die sowohl den Ideologen der späten 1970er-Jahre wie auch auf andere Weise den Leistungskletterern der 1980er eigen war, fehlt bei den manischen Routenbohrern der späten 1980er- und 1990er-Jahre. Dies trotz der zum Teil hohen Schwierigkeiten, die geklettert wurden. Das ist erfrischend.

Die «Fluebible», die schliesslich 1997 erschien, strotzt denn auch vor Witz. Comics und Texte, deren Wahrheitsgehalt nicht immer ganz klar ist, die aber die Kletterszene und allen voran die Verfasser selbst kritisch hinterfragen, zeugen davon. Dies geht jedoch in keiner Weise auf Kosten der Qualität der Beiträge: aufwendige Zeichnungen, Zusatzinformationen über Flora, Fauna und Geologie sowie Anekdoten aus über 20 Jahren Klettern in Basel. Es ist ein abschliessendes Werk, das fast die gesamte Basler Klettergeschichte umfasst.




Auszüge aus der Fluebible, dem Routenführer des Basler Juras. (Bild: Fluebible)




Auszüge aus der Fluebible, dem Routenführer des Basler Juras. (Bild: Fluebible)

Abschliessend ist das Buch auch deshalb, weil kurz darauf der Kanton Baselland, in dem sich der Grossteil der Routen befindet, ein Verbot für Neurouten erliess. Zudem wurden immer mehr Gebiete gesperrt und erst durch die Arbeit der kurz zuvor gegründeten IG Klettern-Basel konnten Kompromisse gefunden werden. So kann heute fast überall geklettert werden, wenn auch nicht zu jeder Jahreszeit. Dies vor allem zum Schutz gefährdeter Vogelarten wie dem Wanderfalken, der in den Felsen brütet.

Weg vom Fels in die Halle – B2

Neurouten am Fels werden in Basel kaum noch eingerichtet, Plastikrouten hingegen immer mehr. Basels Plastiktempel liegt in Pratteln. Zwischen Aquabasilea und Ikea liegt das B2 (Bars&Boulders) mit über 700 Quadratmeter Boulderfläche. Boulders sind Kletterrouten, die seilfrei begangen werden und wo ein Sturz auf der weichen Matte endet. Nicht die Höhe, sondern die Schwierigkeit ist entscheidend. Und einige der Kletterer hier gehen in diesem Punkt sehr weit.




Marvin Silva Kühne testet einen frisch geschraubten Wettkampfboulder. (Bild: Olivier Christe)

Gründer und Betreiber der Halle sind die Bohrwütigen der 90er-Jahre, Tscharner und Luisier. Sie sorgen dafür, dass das B2 unter Boulderern als eine der besten Hallen der Schweiz gilt. Ständig bauen sie die Wände um, neue Routen entstehen, Grillfeste und Wettkämpfe finden statt.

Und hier kommen auch die Generationen zusammen: Neben den Pionieren trainieren junge Talente. Einer von ihnen ist Marvin Silva Kühne, Jahrgang 1996, der letztes Jahr den dritten Platz an den Schweizermeisterschaften gewann und bei meinem Besuch gerade eine Wettkampfroute für unter 16-Jährige testet. Gemeinsam mit Tscharner bespricht er das Vorgehen und macht Empfehlungen nach den Testläufen: «Nimm Mirko als Beispiel. Er ist regelmässig unter den ersten drei. Er kann diesen Zug aber mit Sicherheit nicht. Wir müssen das also anders schrauben. Ausserdem ist die Verletzungsgefahr viel zu gross.»




Mike Tscharner, Mitbegründer und Wandbauer im B2, ist bemüht um eine sich ständig wandelnde Boulderhalle. (Bild: Olivier Christe)

Die Routen an den Felsen rund um Basel gelten heute vor allem als Testpieces, wie die obligatorischen Routenklassiker in der Kletterszene genannt werden. So besuchte 2009 der Tscheche Adam Ondra, zurzeit der wohl weltbeste Kletterer, den Basler Jura und wiederholte einen Grossteil der schwierigen Routen. Der Konkurrenzkampf aber findet heute an Wettkämpfen statt, die zeitlich begrenzt sind und in denen Sieg oder Niederlage nicht für immer im Plastik eingraviert sind. Beim nächsten Wettkampf bietet sich auch gleich die nächste Gelegenheit für den Sieg. Oder aber er muss bestätigt werden.

In diesem Sinn sagt Tscharner: «Eine Route bohren, sie als Erster klettern und ihr einen Namen geben, ist schon ein Egotrip. Wer danach kommt, kann sie 100 Mal klettern. Blind sogar. Er hat nicht mehr den Ruhm des Erstbegehers.» Und er ergänzt in Bezug auf die heutige Klettergeneration: «Die Jungen sind heute vielfältiger. Man fokussiert sich nicht so auf einen Sport. Sie klettern hier superstark, aber studieren oder machen nebenbei ihren Job. Und machen sonst noch Ferien, gehen biken oder auf Skitouren. Früher war der Fokus aufs Klettern und der Leistungsdruck untereinander viel grösser. Da sind die Jungen heute viel lockerer drauf.»




Das B2 gilt unter Boulderern als eine der besten Hallen der Schweiz. (Bild: Olivier Christe)

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Die «Fluebible» ist zurzeit leider vergriffen. Während die Routen in den unteren und mittleren Schwierigkeitsgraden im Führer Plaisir Jura des Filidor-Verlags aufgeführt sind, fehlt eine Dokumentation der schweren Routen im Basler Jura zurzeit. Mehrere entsprechende Projekte liegen aufgrund von Umweltschutzgedanken seitens der Kantone im Moment auf Eis.

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