Der Genozid an den Armeniern jährt sich zum 100 Mal. Noch immer wird um die «richtige» Erinnerung daran gestritten. Die Schweiz stösst dabei lieber die Armenier vor den Kopf als die Türkei.
«Wer spricht denn heute noch von der Vernichtung der Armenier» – mit dieser rhetorischen Frage soll Hitler im August 1939 auf dem Obersalzberg eine Woche vor der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs seine Vernichtungspläne erläutert haben. Dieser Bemerkung schickte er voraus: Er habe seine Totenkopfverbände mit dem Befehl bereitgestellt, «unbarmherzig und mitleidlos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken. Nur so gewinnen wir den Lebensraum, den wir brauchen.»
Mit dem Hinweis auf dieses überlieferte, aber nicht ganz gesicherte Diktum verbindet sich die Mutmassung, dass eine entschiedenere Verurteilung des Völkermords an den Armeniern den Holocaust hätte vermeiden können. In der Literatur wird in den systematischen Massenmorden während des Ersten Weltkriegs mitunter ein «Probefall» oder ein «Signal» für den Genozid im Zweiten Weltkrieg gesehen.
Das NS-Regime hätte sich durch eine Verurteilung der in der osmanischen Türkei begangenen Verbrechen jedoch kaum von seinen Endlösungsplänen abhalten lassen. Wie die bekannten Beispiele von Ruanda (1994) und Srebrenica (1995) zeigen, konnte auch die hochoffizielle Verurteilung von Völkermorden durch die UNO in den Jahren 1946/1948 weitere Menschenvernichtung mit genozidalem Charakter nicht verhindern.
Vergangenheit, die näher rückt
In diesen Tagen wird wieder vermehrt der Morde an den Armeniern gedacht. Bei Massakern und auf systematisch organisierten Todesmärschen sind in den Jahren 1915/1916 je nach Schätzung zwischen 300’000 und mehr als 1,5 Millionen Menschen zu Tode gekommen. Mitverantwortlich war das Deutsche Reich, das in der verbündeten Türkei eine wichtige Stellung innehatte und über die Vorgänge vollends informiert war. Deutschlands indirekte Gehilfenschaft ist in Deutschland selber bisher kaum thematisiert worden.
Einzelne Ausschreitungen (Pogrome) fielen bereits in die Vorzeit. Der 24. April 1915 gilt aber als eigentlicher Auftakt, weil damals führende Vertreter der armenischen Gemeinde in Konstantinopel gefangen genommen wurden. Dieses Datum ist denn auch der internationale Gedenktermin, und dieser ist, weil er sich jetzt zum 100. Mal jährt, von besonderer Bedeutung.
Hitler hatte schon 1939 mit seinem «Wer spricht denn …» und hat inzwischen erst recht nicht Recht. Aber solche Anteilnahme hatte ihre Konjunkturen. Es ist nicht so, dass Vergangenheit mit dem Fortschreiten der Jahre in allen Fällen im Takt von Halbwertszeiten erblasst. Wie im Fall des Holocaust kann Vergangenheit mit den Jahren auch wieder näher rücken.
Selbst Atatürk bezeichnete die Vernichtung der Armenier als «Schandtat der Vergangenheit».
Bei Kriegsende 1918 und beim Zusammenbruch des Osmanischen Reichs stand die gerichtliche Verfolgung der Verantwortlichen der Armenier-Massaker auf der internationalen Tagesordnung. Noch vor der Gründung der modernen Türkei (1923) gab es mehrere Prozesse nach osmanischem Recht und 17 Todesurteile. Selbst Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk bezeichnete die Vernichtung der Armenier als «Schandtat der Vergangenheit». Doch schon bald drängten die Westmächte nicht mehr auf Aufklärung und Aburteilungen, denn die Türkei war inzwischen ein wichtiges Bollwerk gegen den Bolschewismus geworden.
Unterstützung aus der Schweiz
Im September 1922 versprach Bundesrat Giuseppe Motta (einer der Vorgänger von Didier Burkhalter) vor dem Völkerbund den Resten dieses «armen, leidenden Volkes» vehement die schweizerische Unterstützung. In der Schweiz war die Anteilnahme am Leid des armenischen Volkes nicht zuletzt wegen der christlichen Gemeinsamkeit ursprünglich gross. Schon 1896 hatten über 400’000 Schweizer Bürger auf frühe Ausschreitungen mit einer Petition reagiert, die vom Bundesrat eine Intervention verlangte.
Bis 1922 wurden die Verfolgten aus Mitteln von Privatspenden vor Ort unterstützt. Im Rahmen dieser Hilfsbewegung reiste auch der junge Basler Arzt Hermann Christ in die armenischen Elendsgebiete. 1921 erschien darüber ein Bericht des Krankenpflegers Jacob Künzler «Im Lande des Bluts und der Tränen» (neu aufgelegt 1999). 1947 wurde er durch die Medizinische Fakultät der Universität Basel mit dem Ehrendoktor gewürdigt.
Terror im Namen der Erinnerung
Was Teil des Gruppengedächtnisses und vielleicht sogar des breiteren kollektiven Gedächtnisses ist und bleibt, hängt vom Willen ab, bestimmte Teile der Geschichte am Leben zu erhalten. Dieser Wille ist bei den Armeniern eindeutig gegeben. Er ist in den letzten Jahren eher gewachsen und gegenüber der internationalen Welt fordernder geworden. Dieses Wollen ist bis zu einem gewissen Grad auch verbunden mit einem Müssen. Nämlich mit einem als Verpflichtung empfundenen Auftrag, gegen die Verharmlosung der traumatisierenden Erfahrung und für die Anerkennung der Vernichtungsabsicht zu kämpfen.
Um dem Desinteresse an der armenischen Frage entgegenzuwirken, griff in den 1970er-/1980er-Jahren eine armenische Geheimarmee mit dem Namen Asala zum Mittel des Terrors. Sie verübte in dieser Zeit zahlreiche Attentate (gezielte Schüsse auf türkische Diplomaten und Bombenanschläge). Bei über 20 dieser Aktionen (Bombenanschläge und Attentate auf türkische Repräsentanten) wurde auch die Schweiz in Mitleidenschaft gezogen.
Die türkische Verharmlosungsstrategie
Es gab Armenier, die darin ein legitimes Mittel sahen, die Weltöffentlichkeit aufzurütteln, aber auch solche, welche diese Gewalttaten als «abscheuliche Exzesse» verurteilten und als schädlich für die armenische Sache einstuften. Mit der «armenischen Frage» war die Anerkennung des Völkermords, aber auch die Eingliederung ehemals armenischer Gebiete der Osttürkei in das benachbarte Armenien gemeint.
Von der Türkei wird nicht bestritten, dass es zu Massenmorden an Armeniern gekommen ist. Verharmlosend werden diesen aber von der armenischen Gegenseite begangene Verbrechen entgegengehalten. Bestritten wird die Absicht, eine ganze Volksgruppe auszulöschen. Es ist von «kriegsbedingten Sicherheitsmassnahmen» die Rede.
Das Problem der Türkei besteht in der Schwierigkeit, anzuerkennen, dass «die eigene Nation» (obwohl es sich um das osmanische Vorgängerregime handelte) ein Verbrechen hätte begangen haben können. Also historisches Versagen einzugestehen, was andere Staaten (angefangen mit Deutschland bis hin zur Schweiz) mehr oder weniger zustande gebracht haben. Stattdessen wird für die Beurteilung einer längst geklärten Frage seit Jahren auf die Einsetzung einer Historikerkommission gesetzt und so eine anerkennende Stellungnahme hinausgeschoben.
Der Bund ist aus Rücksicht auf die Türkei beziehungsweise auf die eigenen wirtschaftlichen Interessen gegen ein Mahnmal in Genf.
Im Hinblick auf das Gedenkjahr 2015 bemüht sich die armenische Seite seit acht Jahren, in der UNO-Stadt Genf ein Mahnmal zu errichten. Im Parc de l’Ariana sollten Laternen mit Tränen aus Stahl an den Völkermord erinnern, ohne die Türkei explizit anzuprangern und ohne das Wort Genozid zu verwenden. Das Stadtparlament steht dem Projekt positiv gegenüber und hat schon 2008 einen entsprechenden Beschluss gefasst. Der Bund jedoch ist aus Rücksicht auf die Türkei beziehungsweise auf die eigenen wirtschaftlichen Interessen dagegen und versucht über den Kanton Genf das Projekt auszubremsen.
Lieber zur G20 statt nach Erewan
Bundesbern schlug vor, dass die Armenier auf die Nennung ihres eigenen Namens beim Denkmal verzichten und bloss ein allgemeine Gedenkstätte für Genozid-Opfer schaffen sollten. Didier Burkhalter (Nachfolger von Motta) stand vor der Wahl: Entweder allgemeinen Bekenntnissen, wie er sie in Auschwitz ins Gedenkbuch geschrieben hat, konkretes Handeln folgen zu lassen – «Es liegt in unserer Verantwortung, den jüngeren Generationen zu erklären, was solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit ermöglichte» – oder den deutlich demonstrierten Erwartungen der Türkei zu entsprechen.
Er hat sich entschieden. Die Türkei hat 2015 den Vorsitz der Gruppe der 20 stärksten Wirtschaftsmächte (G20). Die Schweiz möchte gerne auch in diesem Jahr dort Gast sein. Und das hängt vom Vorsitzland ab. An der offiziellen Gedenkfeier vom 24. April in der armenischen Hauptstadt Erewan wird die Schweiz nur auf Botschafterebene vertreten sein.