Jetzt haben es die meisten gemerkt: Nicht der Euro ist das Problem, sondern die Demokratie und die demokratische Basis, die ihm fehlen. Eine transnationale Demokratie wäre nicht das Ende der nationalen Demokratien, sondern deren notwendige Erweiterung; das jüngste und fürs ganze Gesamtkunstwerk absolut notwendige Steinchen.
Als Tsipras zum Notbremse-Plebiszit über die Form der Bewältigung der Finanz- und Schuldenkrise rief, gab es eine Reihe von Einwänden. Einer der fundiertesten fusste auf einem demokratiepolitischen Grundprinzip: Alle die von einer Entscheidung betroffen sind, sollten in die Entscheidungsfindung miteinbezogen werden. Also nicht nur die mehrheitlich von der Verelendung bedrohten Griechinnen und Griechen, sondern auch all die anderen Europäerinnen und Europäer, die mit ihren Steuergeldern die Mittel erarbeitet haben, mit denen Griechenland «weiter geholfen» und/oder mit denen für die Kredite zugunsten Griechenlands gebürgt werden soll.
Das griechische Plebiszit verschaffte aber nur den Griechen Gehör. Die anderen 18 Völker der Euro-Zone blieben ungehört und mussten sich mit den sehr empathischen Beurteilungen durch ihre Regierungen zufrieden geben.
Die konservativen Kritiker von Tsipras verschenkten freilich die demokratische Qualität ihres Einwandes, als sie gegen die Volksabstimmung in Griechenland wetterten und lieber gar keine Betroffenen hören wollten. Sie zogen gar keine Demokratie jener für die Griechen allein vor. Demokratischer wäre gewesen, statt nur die Griechen alle anderen Euro-Europäer zum Bürgerentscheid einzuladen. Wozu es natürlich mehr bräuchte als 18 weitere Plebiszite. Es bräuchte transnationale Institutionen und Verfahren, die transnationale Bürgerinnen- und Völkerentscheide ermöglichen würden, seien diese nun EU- oder Euroland-weit.
Eine politische Union bedarf einer «demokratischen Union»
Zum Unterschied nur so viel: Von den 28 EU-Staaten haben sich nur Grossbritannien, Dänemark und Schweden (letztere beiden in nationalen Referenden) darauf festgelegt, den Euro nicht zu übernehmen. – Die sechs anderen dürften, ja müssten ihn sich gar zu eigen machen, sobald sie die entsprechenden volkswirtschaftlichen und fiskalischen Konvergenzkriterien einhalten können.
Der amerikanische Historiker und Osteuropa-Spezialist Timothy Snyder brachte es in der «New York Review of Books» (NRB) auf den Punkt: «Die politische Seite der europäischen Krise ist der Mangel an Demokratie». Snyders Argument: «Heute können wir sehen, dass es keinen Sinn machte, eine Währungsunion (das Euroland) zu bauen ohne fiskalische Union, das heisst ohne substanzielles gemeinsames europäisches Budget. Eine Fiskalunion würde aber mehr europäische Demokratie nötig machen, um Ausmass und Form der Einnahme gemeinsamer Steuern und der Ausgaben zu rechtfertigen.»
Der Wirtschaftsweise und Nobelpreisträger Paul Krugman ist noch härter. Unter dem Titel «Europas unmöglicher Traum» schrieb er in der «New York Times»: Was heute in Griechenland, Spanien und Portugal passiert, sei die Folge davon, dass «selbstgenügsame Politiker in Brüssel, Berlin und Paris» das «Einmaleins und historische Lektionen vergessen» und 25 Jahre lang glauben, Europa auf der Basis von «fantasy economics» gestalten zu können.
Es sei von Anfang an deutlich gewesen, dass eine Währungsunion ohne politische Union ein «sehr zweifelhaftes Projekt» sein würde. Eine politische Union bedarf eben einer «demokratischen Union», einer demokratisch verfassten Union, mit echten Entscheidungsbefugnissen von repräsentativen, direkt gewählten europäischen parlamentarischen Institutionen.
Statt einer politischen Verfassung bekam Europa 1957 bloss Wirtschaftsverträge.
Statt wie von einigen vielleicht erhofft, in seinem Sog die politische Vereinigung und damit die Demokratie nach sich zu ziehen, wurde der Euro zum Motor der «Desunion» der Europäischen Union. Snyder schreibt dazu: «Die Krise Griechenlands führte zu einem Zusammenstoss der verschiedenen Demokratien Europas, worin die Schwachen sich den Starken unterordnen müssen. Die Griechen bekommen die Politik nicht, für die sie sich (zweimal) aussprachen; die Deutschen, Finnen und Slowaken – hätten sie denn gekonnt – hätten sich ebenso wenig für diese Politik ausgesprochen. Ohne europäisches Budget sind solche Krisen unausweichlich; ohne Demokratie fehlt allen Lösungen die politische Legitimation.»
Von Anfang an wollten in den 1940er-Jahren die radikalsten der europäischen Pioniere die europäische Integration auf demokratischer Grundlage verfassen. Doch Philosophen wie der Neuenburger Denis de Rougement wurden nicht ausreichend gehört und verstanden, als er mit Blick auf die Fähigkeit Frieden zu schaffen meinte, man solle keine «Souveränität verteidigen, die man längst nicht mehr habe». Statt einer politischen Verfassung bekam Europa 1957 bloss Wirtschaftsverträge; statt Europa auf die Bürger abzustützen, machte man Regierungen zu den Hauptakteuren.
Mitterands Desinteresse an der Demokratie
Das ging, wie der spanische Philosoph Cesar Rendueles in der «Süddeutschen Zeitung» schrieb, so lange gut, als der europäische Wohlfahrtsstaat als «Bollwerk gegen die sowjetische Bedrohung» ebenso schnell wuchs wie die Integration der europäischen Märkte. Bis in den 1990er-Jahren nach dem Einsturz der UdSSR marktliberale Positionen zu dominieren begannen, überall nur noch dereguliert und privatisiert wurde. 1992 bei der Schaffung des Euro waren die Benelux-Staaten und Kommissionspräsident Delors zu schwach, um den Euro in eine politische Union zu verpacken; Mitterand und andere waren an einer europäischen Demokratie nicht interessiert.
Heute haben nun auch die europäischen Regierenden gemerkt, was dem Euro fehlt. Doch die einen (Merkel und die Osteuropäer) wollen die notwendigen fiskalischen Kompetenzen in den Händen der nationalen Minister und Ministerpräsidenten behalten; andere wie der Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker möchten sie in die Hand der Europäischen Kommission geben. Frankreichs Präsident Hollande wiederum will «eine europäische Wirtschaftsregierung, ein europäisches Budget und ein Euro-Parlament» und möchte die Sommerpause für entsprechende «Sondierungen» nutzen.
Dritte wiederum, wie der genannte linke Philosoph Rendueles, glauben immer noch «die einzige Hoffnung» liege darin, «dass die EU-Länder ihre Souveränität zurückerlangen, die der Markt an sich gerissen hat.»
Auslaufmodell nationale Demokratie
Wiederum soll also die nationale Demokratie retten, was nur die europäische Demokratie leisten kann. Als ob der transnationale Markt die nationalen Demokratien nicht ausreichend gegeneinander ausgespielt hätte.
Weshalb merken die US-Historiker und Ökonomen aus der Distanz besser, dass es in Europa der Transnationalisierung der Demokratie bedarf, um auszugleichen und zu integrieren sowie dem längst transnationalen Markt den Respekt für die Würde des Menschen (und der Natur) aufzuzwingen sowie entsprechende Grenzen und Regeln setzen zu können? Denn nicht die Demokratie droht zum «Auslaufmodell» zu werden, wie der «Tages-Anzeiger» im Titel über der Abschiedsvorlesung des Zürcher Historikers Jakob Tanner fälschlicherweise suggerierte, sondern nur die nationale Demokratie.
Vermag sich die Demokratie zu transnationalisieren, beispielsweise indem sie Europa föderalistisch verfasst, und so die regionalen und nationalen Demokratien erweitert statt – wie die Vertrags-EU – heute behindert, dann hat sie mehr Zukunft als Geschichte. Denn nicht nur die EU und der Euro benötigen Demokratie, um im Interesse der Menschen zu wirken; die Demokratie braucht auch die europäische Ebene, um die Macht der Bürgerinnen und Bürger zum Ausdruck bringen zu können.