Traumatherapeut Silvan Holzer: «Das Urvertrauen in das Gute im Menschen ist erschüttert»

Kinder, die zu Silvan Holzer kommen, haben Unaussprechliches erlebt. Holzer, Spezialist für traumatisierte Flüchtlingskinder, will ihnen die Sprache zurückgeben. Ein Gespräch über Fluchterfahrungen, Fenster zur Seele und über die Kraft des Spielens.

«Vieles ist Übersetzungsarbeit»: Traumatherapeut Silvan Holzer sucht im Spiel der Kinder nach Hinweisen auf die erlittenen Verletzungen.

(Bild: SRK, Roland Blattner)

Kinder, die zu Silvan Holzer kommen, haben Unaussprechliches erlebt. Holzer, Spezialist für traumatisierte Flüchtlingskinder, will ihnen die Sprache zurückgeben. Ein Gespräch über Fluchterfahrungen, Fenster zur Seele und über die Kraft des Spielens.

Das Spiel ist die Sprache des Kindes, sagt Silvan Holzer, Kinderpsychotherapeut in Diensten des Roten Kreuzes. Holzer arbeitet derzeit mit 20 Kindern und Jugendlichen aus Syrien, der Türkei, Afghanistan, Eritrea, Somalia und Sri Lanka. Sein Therapiezimmer im Berner Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer muss kleinen Kindern wie ein kleines Paradies vorkommen: In jeder Ecke stehen Spielsachen. Doch mit dem Spiel beginnt oft jahrelange Arbeit, in der die Kinder lernen, mit dem Erlebten umzugehen.

Silvan Holzer, was passiert, wenn ein Kind zu Ihnen in die Therapie kommt?

Das erste Gespräch findet in der Regel mit den Eltern des Kindes statt. So soll das Kind geschützt werden und die Eltern die Möglichkeit erhalten, in ihrer Sprache ungefiltert über Erlebnisse sprechen zu können. Zuerst stelle ich kurz das Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer des SRK und mich in meiner Rolle vor, erläutere unsere Neutralität und Unabhängigkeit sowie die ärztliche Schweigepflicht. Oftmals frage ich dann die Eltern, was sie zu uns führt oder wie wir ihnen helfen können. Wir sprechen über die gesamte Lebensgeschichte des Kindes, von der Schwangerschaft bis zum Jetzt. Damit verbunden werden auch traumatische Erfahrungen angesprochen und nach Möglichkeit detailliert erfasst.

Wann stösst das Kind dazu?

Ab der zweiten Therapiestunde steht das Kind im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Wir begrüssen uns, stellen uns vor und erkunden gemeinsam das Therapiezimmer. Dabei ist ein begleitender Elternteil anwesend und wenn nötig ein Dolmetscher. Wir besprechen, warum das Kind hier ist, schauen, woher es kommt, wo es nun wohnt. Manchmal besprechen wir auch, wo es zur Schule geht, welche Hobbys es hat oder hatte, sprechen über Freundschaft, Geschwister und Haustiere oder welche von den Spielmaterialen es kennt und Lust hat auszuprobieren. Da die Sprache des Kindes das Spiel ist, wiederholen oder reinszenieren Kinder im Spiel die erlebten traumatischen Ereignisse. Durch die Therapie versuchen wir vereinfacht gesagt, die Erfahrungen emotional aushaltbar, kontrollierbar und bewältigbar zu machen und in die Lebensgeschichte zu integrieren.

«Kinder, die Fürchterliches erlebt haben, entwickeln oft ein sehr feines Netz an Antennen, mit dem sie ihr Gegenüber abtasten.»

Wie lange dauert es, bis Sie das Vertrauen eines Kindes gewonnen haben?

Manchmal wenige Stunden, manchmal Monate. Das ist abhängig von den gemachten Erfahrungen, von der Lebensgeschichte. Kinder, die sehr traumatisiert sind, fangen einfach an zu spielen, sie vermeiden jeden Kontakt zu mir und den anderen Erwachsenen im Raum. Sie nehmen uns nicht mal wahr. Da versuche ich, über gemeinsames Malen, das Spiel mit dem Puppenhaus oder in kleinen Rollenspielen eine Beziehung aufzubauen. Kinder, die Fürchterliches erlebt haben, entwickeln oft ein sehr feines Netz an Antennen, mit dem sie ihr Gegenüber abtasten. Die spüren sehr schnell, ob man sie ernst nimmt.

Sie sprechen von «Fenstern zur Seele», die sich manchmal auftun und die Ihnen Einlass in die zerrüttete Innenwelt eines Kindes gewähren. Sind das die zentralen Momente in der Therapie?

Das sind wichtige Momente. Mein Ziel ist es, die Welt des Kindes zu verstehen, mich in sie hineinzudenken und an ihr teilzuhaben. Vieles dabei ist Übersetzungsarbeit: Das Kind drückt mit dem Spielen etwas aus, was eine Bedeutung für es hat. Ich muss das wahrnehmen und richtig darauf reagieren. Am Anfang einer Therapie macht ein traumatisiertes Kind oft kleine Beziehungstests, mit denen es überprüfen will, ob ich für es da bin, ob ich verstehe und mit seinen Verletzungen umgehen kann. Darauf versuche ich zu reagieren, das entgegengebrachte Vertrauen wertzuschätzen, erlebte Gewalt zu verurteilen, übernehme die Rolle des stillen Zeugen, halte mit dem Kind aus und zeige meine eigene emotionale Anteilnahme.

Wie merken Sie, wann Spiel nicht bloss Spiel ist, sondern Symbol für das Geschehene?

Ein Beispiel: Ein Junge aus Syrien hat in seinen sieben Lebensjahren viele Beziehungsabbrüche erlebt und wichtige Bezugspersonen verloren. Von Beginn weg spielte er in der Therapie immer mit demselben Auto. Es übte auf ihn offenbar eine gewisse Symbolkraft aus, es stand für die Verlusterlebnisse. Er wollte immer damit spielen. Dann war es plötzlich weg, irgendjemand hatte es in eine andere Kiste gelegt. Der Junge kam zu mir und sagte: «Schon komisch, dass alles, was mir wichtig ist, verschwindet.»

Wie haben Sie darauf reagiert?

Ich habe bestätigt, dass das allerdings seltsam sei. Ich fragte ihn, was wir machen sollten, was für Möglichkeiten wir haben, uns damit auseinanderzusetzen. Wir haben uns dann auf die Suche nach dem Auto gemacht und es schliesslich gefunden. Die Suche war mit einer steigenden Anspannung verbunden. Es wiederzufinden war gleichbedeutend damit, dass man nicht ohnmächtig ist, wenn schlimme Dinge geschehen. Die Botschaft für das Kind war: Situationen lassen sich verändern und der Therapeut kann dabei helfen.

«Insbesondere wenn Kinder ohne Begleitung flüchten müssen, ist von schweren traumatischen Erfahrungen auszugehen.»

Auf welche Probleme stossen Sie bei den Kindern?

Aufgrund ihrer traumatischen Erfahrungen ist das Vertrauen in Mitmenschen oftmals tiefgreifend beeinträchtigt. Folglich bestehen auch viele Probleme bei Kontaktaufnahme und Beziehungsgestaltung. Diese Kinder weisen nicht selten ein ausgeprägtes Misstrauen auf, sind ängstlich, schreckhaft, ziehen sich zurück, fühlen sich ausgegrenzt, leiden unter Hoffnungslosigkeit, fühlen sich traurig und einsam, oder haben das Gefühl, die Kontrolle über ihre Gefühle verloren zu haben. Sie leiden unter Lernschwierigkeiten, weil sie sich nicht konzentrieren können, die kognitiven Funktionen beeinträchtigt sind.

Was für Erlebnisse lösen derartige Traumata aus?

Es gibt keine klassischen Momente. Traumatisierungen sind abhängig von Vorbelastungen, von der Situation der Eltern, vom Alter – von einer Vielzahl an Faktoren. Stark gewaltvolle Erfahrungen erhöhen sicherlich die Wahrscheinlichkeit von Konsequenzen auf die Psyche. Ich erkläre den Kindern immer, dass jeder einen Rucksack mit sich trägt. Je nachdem wie voll er ist, kann bereits ein kleines, vergleichsweise harmloses Erlebnis ein Trauma erzeugen.

Welche Spuren hinterlässt die strapazenreiche und gefährliche Flucht?

Insbesondere wenn Kinder ohne Begleitung flüchten müssen, ist von schweren traumatischen Erfahrungen auszugehen. Diese erschüttern das Urvertrauen an das Gute im Menschen. Diese Kinder haben neben schrecklichen Bildern und Handlungen viel zu früh erleben müssen, dass die Welt und die Menschen unberechenbar sind, es keine Sicherheit gibt. Teilweise sogar, dass sie von ihren Eltern in Notsituationen nur bedingt geschützt werden konnten. Es resultieren tiefgreifende Narben in der Seele, die ohne fachliche Unterstützung schwerwiegende Konsequenzen für das ganze Leben haben können.

Kleine Kinder gelten als resistenter, weil ihnen die Möglichkeiten fehlen, Abscheulichkeiten einordnen zu können. Stimmt das?

Man hat lange Jahre angenommen, dass sie aufgrund des Entwicklungsstands eine gewisse Immunität gegen Traumatisierungen aufweisen. Nun weiss man, dass Kinder stärker betroffen sind, je kleiner sie sind. Sie haben nicht die Möglichkeit, sich zu artikulieren und das Erlebte kognitiv zu verarbeiten. Schon im ersten Lebensjahr können traumatische Erfahrungen auftreten. Je älter die Kinder sind, desto mehr Ressourcen haben sie, das Geschehene zu verarbeiten.

«Die Kinder nässen wieder ein, lutschen am Daumen und sind extrem trennungsängstlich.»

Was für Strategien haben Kinder, mit traumatischen Erfahrungen umzugehen?

Kinder retten sich in extremen Stresssituationen und danach nicht selten auf sichere Inseln früherer Erfahrungen, sie werden wieder zu kleineren Kindern: Sie nässen wieder ein, lutschen am Daumen und sind extrem trennungsängstlich, verlernen bereits Gelerntes oder sprechen in der Babysprache. Die häufigsten Strategien sind die Vermeidung von Gedanken und Gefühlen, das Sprechen über das Erlebte, Erinnerungsblockaden oder Intrusionen des Erlebten in belastete Erinnerungen und Träume.

Wie problematisch sind die Erfahrungen im Asylprozess, namentlich die Ungewissheit bis zum Entscheid?

Das ist stark vom Alter des Kindes, dem familiären Umgang mit der Problematik sowie der Dauer abhängig. Die Reaktionen können entsprechend sehr unterschiedlich ausfallen. Sicherlich ist direkt oder indirekt das Aushalten dieser Ungewissheit für das Kind oder den Jugendlichen eine hohe Belastung. Diese kann zu starker innerer Anspannung und psychosomatischen Symptomen wie Kopfweh, Bauchweh führen. Über einen längeren Zeitraum dürfte diese Ungewissheit einen zusätzlichen Risikofaktor für eine psychische Erkrankung darstellen.

«Meine Arbeit ist sehr intensiv und belastend. Man muss auch an kleinen Schritten Freude haben, an Augenblicken des Alltags, des Lachens während der Therapie.»

Erhalten traumatisierte Kinder in der Schweiz genügend Aufmerksamkeit?

Es gibt zu wenig Spezialisten und Therapieplätze, nicht nur für Flüchtlinge, sondern auch Schweizer Kinder, die etwa Opfer von häuslicher Gewalt wurden. Wir erhalten viel mehr Anfragen, als wir bewältigen können.

Sie begegnen während Ihrer Arbeit schwierigen Geschichten. Was überwiegt: das Belastende, oder die Erfüllung, wenn Hilfe gelingt?

Es ist beides. Die Arbeit ist sehr intensiv und belastend, weil man mit dramatischen menschlichen Schicksalen konfrontiert wird, die sehr tragisch sind und einen tief berühren. Aber es gibt unvergleichlich schöne Momente, etwa wenn einem ein Kind nach zwei oder drei Jahren Therapie beim Hinausgehen beiläufig mitteilt, dass es einen nicht mehr braucht. Wenn ein Kind so weit ist, selbstständig die nächste Phase anzupacken. Das sind Glücksmomente, die einen bestärken. Aber man muss auch an kleinen Schritten Freude haben, an Augenblicken des Alltags, des Lachens während der Therapie.

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