Tsipras zieht Notbremse

Mit einem Referendum im direktdemokratischen Sinn hat das vom griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras angesetzte Plebiszit nur eines gemeinsam, den Volksentscheid. Doch der schlägt in Brüssel ein wie eine Bombe und verstört Europas Spitzenpolitiker nachhaltig.

Mit einem Referendum im direktdemokratischen Sinn hat das vom griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras angesetzte Plebiszit nur eines gemeinsam, den Volksentscheid. Doch der schlägt in Brüssel ein wie eine Bombe und verstört Europas Spitzenpolitiker nachhaltig.

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist das Plebiszit das diskreditierteste Element der direkten Demokratie. Zwei Volksentscheide und ein Mann sind die Ursache. Am 2. Dezember 1851 hatte Napoleon der Dritte (1808–1873), Neffe des ersten «grossen» Napoleons, Schweizer Artillerieoffizier und Ehrenbürger des Kantons Thurgau, kurz vor dem Ende seiner ordentlichen Amtszeit als vom französischen Volk gewählter Präsident mit einem Staatsstreich die Macht an sich gerissen. Nur 19 Tage später liess er Frankreichs stimmberechtigte Männer einer Verfassung zustimmen, die ihm zu diktatorischen Vollmachten verhalf. Am 21. November 1852 befragte er erneut das Volk, diesmal zur Abschaffung der Demokratie und für die Wiedereinführung des Kaisertums. Beide Male stimmten ihm über 90 Prozent der Stimmenden zu. Napoleon der Dritte liess sich zum Kaiser krönen und herrschte als solcher 18 Jahre lang.

Seither sind solche Volksentscheide Lieblingsinstrumente von autoritären Herrschern und Diktatoren aller Art. Hitler bediente sich ihrer ebenso wie Pinochet. Meist ging es um mehr oder weniger suggestiv, meist unklar formulierte Fragen im Interesse der Macht, welche der Herrscher den Stimmberechtigten vorlegte. Diese entschieden die vorgelegten Fragen in kurzer Zeit ohne kontroverse Debatten oder echte Alternativen meist zustimmend. Dadurch wollten sich die Diktatoren eine scheindemokratische Legitimation verschaffen, die ihnen aufgrund ihrer meist wenig demokratischen Machtübernahme oder wegen eines fehlenden, wirklich frei und fair gewählten Parlamentes fehlte.

Zugewinn an Prestige und Machtabsicherung

Ein anderer grosser Franzose und Ex-General, Charles de Gaulle (1890–1970), am 1. Juni 1958 ebenfalls staatsstreichförmig zum zweiten Mal an die Macht gelangt, liess im September 1958 die Franzosen eine Verfassung genehmigen, in der er der Form des präsidialen Plebiszits zu einer demokratischen Legitimität verhalf. Seither machen Frankreichs Präsidenten immer wieder und nicht ohne politische Hintergedanken von diesem Recht Gebrauch, irgendeine Frage – Direktwahl des Präsidenten durch das Volk, die Dezentralisierung des Staates, die Erweiterung der EU oder deren Verträge – der Volksabstimmung, hier dann ebenfalls «Referendum» genannt, zu unterstellen. Meist erhoffen sie sich in Fragen, die in der eigenen Partei umstritten sind, einen Zugewinn an Prestige und Machtabsicherung. Freilich kann diese Operation auch schiefgehen: So wollte derselbe de Gaulle seine nach den 1968er-Unruhen geschwächte Position durch ein «Referendum» über den Abbau des Pariser Zentralismus stärken; die Mehrheit verweigerte sich freilich seinem Vorschlag, und de Gaulle trat als Präsident umgehend zurück.

In Griechenland erlaubt die Verfassung dem Regierungschef ebenfalls, ein Referendum anzusetzen. Allerdings muss ihm dabei die qualifizierte Mehrheit des Parlaments zustimmen – eine Hürde, die Alexis Tsipras nur mit Hilfe der rechtsextremen Fraktion überwand; und das Ergebnis der Volksabstimmung gilt nur, wenn 40 Prozent der Stimmberechtigten an die Urnen gehen. Zwischen 1920 und 1974 erlebten die Griechen fünf solche Plebiszite, immer ging es dabei um den König oder die Frage, ob Griechenland eine Demokratie oder eine demokratische Monarchie sein solle.

Schon nur Spurenelemente direkter Demokratie scheinen für zu viele in Brüssel zu Fremdwörtern geworden zu sein.

Der Entscheid der griechischen Regierung und Parlamentsmehrheit zum Plebiszit schlug am vergangenen Wochenende in Brüssel, so die Pariser «Libération», «wie eine politische Bombe ein». Und zwar nicht wegen ihrer dünnen demokratischen Substanz – eine Folge der viel zu kurzen Zeit zur Meinungsbildung der 9,8 Millionen wahlberechtigten Griechinnen und Griechen, der schwierigen Fragestellung*, der unklaren Alternativen, der für das Subito-Verfahren notwendigen Ausnahmegesetze und der völlig umstrittenen Folgen eines mehrheitlichen Ja beziehungsweise Nein am 5. Juli. «Libération» kommentierte, «dieser Appell an das Volk werde von den die Hors-Sol-EU mittlerweile beherrschenden Plutokraten fast als etwas Unanständiges» empfunden. In Brüssel gleiche ein Referendum heute dem berühmten Marx’schen «Gespenst» von 1848, das – damals in Form von aufmüpfigen Arbeiterinnen und Arbeitern – Europa in Angst und Schrecken versetzte, weil in den vergangenen 20 Jahren mit zu vielen Referenden zu viele Überraschungen und grosse Enttäuschungen verbunden werden. Demokratie und auch nur Spurenelemente direkter Demokratie scheinen für zu viele in Brüssel tatsächlich zu Fremdwörtern geworden zu sein.

Dabei darf Tsipras für sich in Anspruch nehmen, im Sinne seines Wählerauftrages vom vergangenen Januar zu handeln: Er war mit dem Auftrag gewählt worden, ohne weitere Belastung der ärmsten 40% der Griechen die Schuldenkrise zu überwinden. Deshalb widersetzt er sich der Bedingung der «Troika», die Mehrwertsteuer weiter zu erhöhen und die eh schon um 40% gekürzten Renten um weitere 20% zu kürzen. Und er versucht, jene, die ihm diesen Auftrag gegeben haben, zu veranlassen, ihm mit einem Nein zu diesen Vorschlägen den Rücken so zu stärken, dass die Troika diese Rücksichtnahme endlich akzeptiert und nicht weiter an der Form der Schuldentilgung festhält, die trotz Rückzahlungen von 17 Milliarden Euro in den vergangenen sechs Monaten die «griechischen Schulden» von 128% des Bruttoinlandproduktes 2009 auf heute 180% haben anwachsen lassen.  

Wie viel lässt sich den Bürgern aufbürden?

Das Referendum genannte Plebiszit ist folglich der letztmögliche Griff eines verzweifelten, aber dem Gemeinwohl verpflichteten Regierungschefs nach der Notbremse. Es geht also weder um die Wiedereinführung der Drachme oder gar um den Austritt aus der EU, sondern um die Frage, wie viel Last sich der Bürger und die Bürgerin aufbürden lassen zur Bewältigung der Schulden- und Finanzkrise. Somit ist dies eigentlich ein sehr demokratisches Unterfangen, gilt doch seit der Bürgerrechtserklärung der Französischen Revolution das demokratische Prinzip, wonach jene, die besonders betroffen sind von einer Entscheidung, Teil des Entscheidungsfindungsprozesses sein sollten.

Bejaht die Mehrheit der Griechen im Unterschied zu ihrer Regierung die plebiszitäre Frage, dann wird Tsipras wohl wie de Gaulle zurücktreten und Neuwahlen ausschreiben. Stimmt ihm aber die Mehrheit der Griechen zu und beteiligen sich mehr als 40% von ihnen an diesem Plebiszit, dann hat die griechische Linke bewiesen, dass es sozialverträgliche Lösungen zur Überwindung der europäischen Wirtschafts- und Währungsprobleme gibt, was viele Portugiesen, Spanier und Italiener ganz besonders interessieren und inspirieren wird. Eine Perspektive, welche viele in Brüssel wohl mindestens so fürchten wie Plebiszite, anständige Referenden oder gar ordentliche Volksinitiativen.

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* Die Frage, zu der sich die 9,8 Millionen stimmberechtigten Griechinnen und Griechen am 5. Juli 2015 äussern sollen, lautet wortwörtlich: «Muss der Entwurf einer Vereinbarung von Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds akzeptiert werden, welcher am 25. 6. 2015 eingereicht wurde und aus zwei Teilen besteht, die in einem einzigen Vorschlag zuammengefasst sind?» Der Rückzug dieser Vereinbarung durch die Verantwortlichen in Brüssel am Tag nach der nächtlichen Ankündigung des Referendums durch den griechischen Ministerpräsidenten sowie der im Vergleich zu dessen Interpretation konträre Sinn, den der EU-Kommissionspräsident am Montag danach der Frage unterlegte, erleichtert deren Beantwortung für die meisten Griechen gewiss auch nicht.

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