Über ein Jahrzehnt herrschte offene politische Feindschaft zwischen der Türkei und Israel. Jetzt sondieren die Kontrahenten Möglichkeiten einer Verständigung. Zuneigung oder gar Freundschaft ist dabei allerdings nicht im Spiel, sondern politischer Pragmatismus. Auf den Weg gebracht wurde die Annäherung in der Schweiz.
Der türkische Staatspräsident hat überraschend rationale Töne angeschlagen. «Israel braucht ein Land wie die Türkei», sagte Recep Tayyip Erdogan kürzlich, «und auch wir müssen akzeptieren, dass wir Israel brauchen – das ist eine Realität in der Region.» Noch bis vor Kurzem warf Erdogan Israel «Staatsterrorismus», «Völkermord» und «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» vor.
Israel und die Türkei waren in den 1990er-Jahren Verbündete und arbeiteten militärisch eng zusammen. Seit dem Regierungsantritt Erdogans 2003 hat sich das Verhältnis zwischen beiden Ländern aber immer weiter verschlechtert, vor allem nach der israelischen Offensive im Gaza-Streifen im Dezember 2007.
Einen Tiefpunkt erreichten die Beziehungen Ende Mai 2010 nach dem Angriff eines israelischen Spezialkommandos auf das türkische Schiff «Mavi Marmara», das die israelische Seeblockade des Gazastreifens durchbrechen wollte. Bei der Erstürmung des Schiffes durch die israelischen Soldaten wurden neun Türken getötet. Der Zwischenfall führte zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen.
Im Frühling 2013 begann das Tauwetter
Das Tauwetter in der türkisch-israelischen Eiszeit zeichnete sich bereits im März 2013 ab, als Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu telefonisch Erdogan sein Bedauern über den Tod der türkischen Aktivisten aussprach: Israel empfinde «Reue» für den Verlust an Menschenleben, die Angehörigen der Opfer würden entschädigt.
In Geheimverhandlungen in der Schweiz haben Diplomaten beider Länder im vergangenen Jahr einen Fahrplan zur Wiederannäherung ausgearbeitet. Die Rahmenvereinbarung sieht vor, dass beide Länder wieder Botschafter nach Ankara und Tel Aviv entsenden und die diplomatischen Beziehungen in vollem Umfang wiederaufnehmen.
In Geheimverhandlungen in der Schweiz haben Diplomaten beider Länder im vergangenen Jahr einen Fahrplan zur Wiederannäherung ausgearbeitet.
Daran hat vor allem Ankara ein grosses Interesse. Die Bürgerkriege im Irak und in Syrien sowie das Zerwürfnis mit Moskau nach dem Abschuss eines russischen Bombers durch die türkische Luftwaffe treiben die Türkei politisch und wirtschaftlich in eine immer stärkere Isolation. Die Türkei sucht deshalb die Nähe des Westens und der USA. Ein wichtiger Baustein dabei sind die Beziehungen zu Israel.
Auch die Energiepolitik spielt eine Rolle. Israel verfügt vermutlich über Erdgasreserven, die den eigenen Bedarf weit übersteigen. Die Türkei könnte mit israelischem Erdgas ihre Abhängigkeit vom Kreml-Konzern Gazprom reduzieren und als Transitland für israelische Gaslieferungen nach Europa zugleich ihre Rolle als Energiekorridor stärken. Auch die Bedrohung durch die IS-Terrormiliz und die wachsende militärische Präsenz Russlands in Syrien, die in Ankara und Tel Aviv mit Sorge gesehen wird, sprechen für einen Schulterschluss der beiden Länder.
Israel könnte Embargo lockern
Mit Netanjahus Entschuldigung und der Aufnahme der Entschädigungsverhandlungen sind zwei türkische Bedingungen für eine Normalisierung erfüllt. Im Gegenzug verpflichtet sich die Türkei, alle Strafverfahren, die gegen die Mitglieder des israelischen Kommandos anhängig sind, einzustellen. Die Regierung in Ankara will ausserdem auf Drängen Israels die Aktivitäten der radikal-islamischen Hamas in der Türkei einschränken.
Die dritte türkische Forderung für eine Normalisierung steht noch aus: ein Ende der Gaza-Blockade. Israel sei zwar wegen der Gefahr des Waffenschmuggels noch nicht bereit, das Embargo aufzuheben, könnte es aber lockern, heisst es in diplomatischen Kreisen. Die Frage ist, ob sich Ankara damit zufriedengibt.
Unumstritten sind die Verständigungsversuche im türkischen Regierungslager nicht. Yavuz Dede, Generalsekretär der regierungsnahen islamischen Hilfsorganisation IHH, die 2010 die «Mavi Marmara» auf die Reise schickte, bezeichnete laut dem Nachrichtenportal Oda TV eine Wiederannäherung an Israel als «Verrat».