In den Niederlanden hat der Prügeltod eines Linienrichters die Nation alarmiert. Am Sonntag haben mehr als 12’000 Menschen bei einem Schweigemarsch dem verstorbenen Richard Nieuwenhuizen gedacht. Am Montag wird er beigesetzt.
Niemand spräche ausserhalb des Amsterdammer Fussballbezirks noch von der Partie auf der Sportanlage der «Buiten-Boys» im Vorort Almere, hätte Richard Nieuwenhuizen ihre Folgen nicht mit dem Leben bezahlt – zu Tode geprügelt von den 15- bis 16-jährigen Jugendlichen, die mit seinen Entscheidungen nicht einverstanden waren.
Augenzeugen bestätigen, dass mehrere Teambetreuer und Zuschauer intervenierten, als der Offizielle mit erschreckender Vehemenz attackiert wurde – nur war es da bereits zu spät. Nieuwenhuizen verstarb am Tag nach dem Spiel an den Hirnverletzungen, die er bei dem Gewaltausbruch erlitten hatte. Das langjährige Mitglied des Vereins wird heute Montag in Almere beigesetzt.
Signale und Gesten
Am Montagnachmittag wurde im Amsterdammer Vorort Almere aufgeatmet: Der befürchtete Rummel um die Beisetzungsfeier für den tödlich verletzten Linienrichter Richard Nieuwenhuizen ist ausgeblieben. 400 geladene Gäste bildeten den Kreis für die Zeremonie, nachdem ein Auto-Konvoi an einem langen Spalier von JuniorInnen blau-weißen Trikots der Buitenboys, die Rosen auf das Auto mit dem Sarg warfen, in langsamem Tempo vorbeigefahren war. Somit wurde dem Wunsch von Familie und Gemeinde entsprochen, die aus der Feier kein Medienereignis machen wollten.
Noch am Sonntag hatten sich rund 12‘000 Menschen, darunter Sportministerin Edith Schippers und Michael van Praag als Vorsitzender des niederländischen Fußballverbands KNVB, einem stillen Trauermarsch mit Fackeln und Transparenten durch Almere beteiligt. Die 20-köpfige Sonderkommission der Polizei in Amsterdam ermittelt unterdessen weiter. (job)
Die üblichen Bekundungen von Mitgefühl und Entsetzen reichten von den Spitzen des niederländischen Fussballverbands KNVB bis zu Eberhard van der Laan, Oberbürgermeister von Amsterdam, und Sportministerin Edith Schippers, die nicht fassen mochte, «dass so etwas auf einem niederländischen Sportplatz passieren kann». Namhafte Profi-Trainer wie Dick Advocaat (PSV Eindhoven) zeigten sich irritiert, weil die Begegnungen der beiden obersten Profiligen an diesem Wochenende dennoch stattfanden – wenn auch erst nach einer Schweigeminute und mit schwarzen Banderolen an den Armen aller Aktiven. Ajax-Coach Frank de Boer wiederum kündigte an, mit den Alt-Internationalen von Oranje ein Benefizspiel bei dem Club aus Almere zu organisieren.
Alles aufrichtige Signale und Gesten, doch die Auseinandersetzung mit dem Problem fängt gerade erst an. Weil der schockierende Zwischenfall zwar im Fussballbetrieb stattfand, aber als Form jugendlicher Gewalt in die Mitte der Gesellschaft weist. Und weil ähnliche, wenn auch nicht so fatale Vorfälle in den niederländischen Amateurligen offenbar häufiger werden. Allein in der vergangenen Saison wurden nach Auskunft des KNVB über 100 Mannschaften vom Spielbetrieb ausgeschlossen; exakt 74 Spieler wurden lebenslänglich gesperrt. Eventuell aber noch immer nicht genug, wie Beobachter auch mit dem Hinweis auf die B1-Elf aus Nieuw-Sloten kritisieren: Mehrere Spieler hatten schon im Oktober einen Trainer ihrer Gegner mit Morddrohungen überhäuft.
Pauschale Entrüstung
Es mag grössere soziale Brennpunkte geben als das Stadtrand-Viertel, das im grünen Westen Amsterdams zum Bezirk Sloterpark gehört. Und keiner möchte von dem grossen Anteil der Zuwanderer, die in den meist Mitte der Neunzigern errichteten Neubauten wohnen, automatisch auf die Zunahme von Übergriffen im Verein schliessen. In der so um Toleranz bemühten Gesellschaft gilt es weiter als Tabu, ausländische Gruppen als Urheber vieler Gewaltdelikte zu benennen. So lange die Toleranten schweigen, haben jedoch Rechtspopulisten wie Geert Wilders Konjunktur, die für sich reklamieren, die Missstände im Namen der Ur-Holländer anzuprangern.
Es wurde also wenig Aufhebens davon gemacht, dass die inzwischen inhaftieren Soufyan B. und Yassin D. aus Marokko und Daveryon B. von den niederländischen Antillen stammen – nicht zu reden von einem vierten Verdächtigen, den die 20-köpfige Ermittlungskommission der Polizei am Donnerstag vorläufig festgenommen hat. Pauschale Entrüstung über die Zuwanderer, die sich in dubiose Parallelgesellschaften einrichten, wäre in diesem Fall jedoch nicht angebracht. So fungiert etwa der Vater von Yassin D. beim SC Nieuw-Sloten nicht nur als bestens integrierter Jugend-Coach, sondern selbst häufiger als Schieds- und Linienrichter.
«Das war kein Zwischenfall»
Nicht alles, was über den Vorfall bisher kolportiert wurde, entspräche der Wahrheit, hat der Vater einem TV-Sender gegenüber angedeutet. Was genau damit gemeint ist, erfahren die Journalisten, die den Stadtteil zur Zeit regelrecht belagern, einstweilen nicht. So lange die polizeilichen Ermittlungen laufen, will sich niemand in Nieuw-Sloten allzu weit aus dem Fenster lehnen. Abgesehen von Achmed Baadoud, dem allseits bekannten Vorsitzenden des Stadtteils Nieuw West. Der meinungsfreudige Politiker mit marokkanischen Vorfahren hat schon vor Jahren für einen härteren Kurs gegenüber jugendlichen Gewalttätern plädiert und schlägt nun kostenlose Selbstverteidigungskurse für Fussballoffizielle vor.
«Das war kein Zwischenfall», ist sich Ahmed Baadoud sicher, denn «es gibt so viele Zwischenfälle, dass es so aussieht, als wenn Gewalt zum Fussball gehört. Das Problem liegt grösstenteils an der Erziehung.» In diese Richtung zielte am Freitag auch Johan Cruyff: Am Rande einer Ehrung in Amsterdam verwies Oranjes Fußballikone auf die fragwürdige Rolle, die viele Eltern in diesen Tagen am Spielfeldrand abgäben. Aufgedreht bis zum Anschlag, gäben sie das denkbar schlechteste Vorbild für faires Verhalten ab: «Die Kinder machen Sachen nach, die sie bei ihren Eltern sehen. Sie tun das nicht einfach so. Es geht nicht um Abstammung, sondern um ein Bewusstsein für Verhaltensregeln.»
Mancher Ehrenamtliche im holländischen Amateurfussball aber mag die geforderte Trendumkehr nicht abwarten, Selbstverteidigung hin oder her: Über 100 Unparteiische haben ihre Lizenz nach Nieuwenhuizens Tod an den KNVB zurückgeschickt. Nicht nur die Vertreter der Gesellschaft, auch der Dachverband in Zeist nahe Utrecht hat in den nächsten Wochen und Monaten viel aufzuarbeiten.