Am 9. November werden die Katalanen ihre Meinung über die Zukunft ihres Landes abgeben – in einer symbolischen Abstimmung, die von Madrid für illegal erklärt wurde. Die trotzige Protestaktion setzt den vorläufigen Schlusspunkt in einem zweijährigen Nervenkriegs zwischen Madrid und Barcelona.
«Guten Tag, wir sind Freiwillige des 9. November. Hätten Sie einen Moment Zeit für eine Umfrage?» Routiniert rattert Laia Casulà ihr Sprüchlein herunter, sobald sich die Tür einen Spalt öffnet. Die 33-jährige Informatikerin ist eine von über 30’000 Freiwilligen der Pro-Unabhängigkeitsplattform Assemblea Nacional, die in Katalonien derzeit von Tür zu Tür ziehen und nach den Wünschen und Vorstellungen für ein unabhängiges Katalonien fragen.
Es ist ein sehr hypothetischer Fragebogen, den sich die Bürgerplattform da ausgedacht hat. «Wenn Katalonien ein eigener Staat wäre, hätte es zwischen 8 und 16 Milliarden Euro mehr zur Verfügung. Was sollte man ihrer Meinung nach damit tun?», steht da beispielsweise. Oder: «Ein neues Land ermöglicht demokratische Erneuerung von Grund auf. Was sollte dabei oberste Priorität haben?»
«Ist das denn erlaubt?»
Die Umfrage soll Zweifler und Unentschlossene von den mutmasslichen Vorteilen einer Unabhängigkeit überzeugen. Doch tatsächlich ist es die letzte Frage, die für die meisten Diskussionen sorgt. «Gehen Sie am 9. November wählen?» «Ist das denn jetzt erlaubt?», fragt unsicher eine alte Dame. «Was passiert mit meinen Daten?», will der Architekt ein paar Häuser weiter wissen.
Aus dem Referendum ist eine offizielle Befragung geworden, und aus der offiziellen Befragung eine Bürgerbeteiligung.
Laia seufzt: «Die Lage ist kompliziert.» Tatsächlich ist die Lage wenige Tage vor dem 9. November so verworren, dass es etwas mehr als guten Willen braucht, um sie zu verstehen. Aus dem Referendum ist eine offizielle Befragung geworden, und aus der offiziellen Befragung eine Bürgerbeteiligung. Anfang der Woche hat das spanische Verfassungsgericht nun auch dieses Konstrukt vorläufig suspendiert, weil es im Kern seinen Vorgängern entspräche.
Die Vorbereitungen gehen trotzdem weiter. Durch Barcelona fahren Busse mit der Aufschrift «Du nimmst teil, du entscheidest»; Wahlzettel und Urnen sind gedruckt und sollen dieser Tage an Schulen, Kindergärten und andere semi-öffentliche Institutionen ausgeliefert werden, die sich bereit erklärt haben, bei der symbolischen Abstimmung mitzumachen.
Keine Abstimmung, trotziger Protest
Die auf Sonntag angesetzte Bürgerbeteiligung wandelt sich dieser Tage in einen trotzigen Akt des Protests. «Ja, ja, natürlich weiss ich, dass das keine echte Abstimmung ist. Aber irgend etwas müssen wir doch tun», sagt eine Dame im Businesskostüm und schiebt herausfordernd ihr Kinn nach vorne. «Sollen sie doch kommen und die Urnen konfiszieren.» Im Herbst 2014 ist die Revoluzzer-Attitüde auch für das katalanische Bürgertum tragbar.
Während Laia Casulà in der Industriestadt Badalona von Haus zu Haus zieht, steht der katalanische Ministerpräsident Artur Mas ein paar Kilometer Luftlinie weiter südlich in einem Hotelsaal vor 2000 Repräsentanten aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und ruft staatsmännisch zur Gelassenheit auf. «Keep calm: Lasst uns der Welt ein Musterbeispiel an Bürgersinn sein.»
Mas wirkt entspannt, etwas erleichtert auch, dass sich ein fast zwei Jahre währendes Dramolett nun dem Ende zuneigt. Nachdem im September 2012 die Verhandlungen um einen Fiskalpakt, eine Neufinanzierung der wirtschaftsstarken Region scheiterten, erhielt die Unabhängigkeitsbewegung massiv Zulauf, eine Million Menschen gingen damals auf die Strasse.
Spanische Zentralregierung legt sich quer
Mas rief vorgezogene Neuwahlen aus und kündigte im Folgejahr, auf Druck der sezessionistischen Parteien, ein Referendum an: «Möchten Sie, dass Katalonien ein eigener Staat wird?» Und, wenn ja: «Möchten Sie, dass Katalonien ein unabhängiger Staat wird?» Madrid erteilte dem Anliegen im Feburar erwartungsgemäss eine harsche Absage. Die Ausrufung von Referenden sei Staatssache, eine theoretisch mögliche Übertragung der betreffenden Staatskompetenzen an die autonome Region schliessen sowohl die Regierung wie auch die oppositionellen Sozialisten kategorisch aus. Ausserdem sei Spanien laut Verfassung unteilbar. Basta.
Demonstration für die Unabhängigkeit in Barcelona, 17.10.2014 («News 24»):
Die katalanische Regierung zog eine zweite Karte aus dem Ärmel: Das Referendum sollte zu einer «consulta» werden: einer Befragung nach noch zu schreibendem katalanischen Recht.
Einen Tag nach dem schottischen Unabhängigkeitsreferendum vom 19. September verabschiedete das Regionalparlament ein Gesetz mit dem sperrigen Titel «Gesetz über nicht-referentielle Volksbefragungen und Bürgerbeteiligung». Bei der feierlichen Unterzeichnung jubelten Hunderte fahnenschwenkend auf dem Vorplatz des katalanischen Regierungspalais: Habemus consultam. Und zogen drei Tage später wieder an den gleichen Ort zurück – bei strömendem Regen, diesmal um zu protestieren.
Unter Zugzwang
Das Verfassungsgericht hatte das Gesetz auf Antrag der spanischen Zentralregierung im Eilverfahren vorläufig suspendiert. In Vic, Tarragona, Girona – überall skandierten Bürger trotzig «Votarem, votarem» («Wir werden wählen»).
Die Regionalregierung stand unter Zugzwang und zog Mitte Oktober eine dritte Karte aus dem Ärmel, die allerdings beinahe zum Bruch mit den anderen Pro-Unabhängigkeitsparteien führte: eine «Befragung im Rahmen einer Bürgerbeteiligung». Mit Urnen und Stimmzetteln, aber ohne Wahlregister und Beamte. Teilnehmer sollten sich vor Ort einschreiben, Freiwillige statt Beamte sollten dafür sorgen, dass alles mit rechten Dingen zuginge. Und: Eine bindende Wirkung habe das Ergebnis in keinem Fall.
Es war der Versuch, Zeit zu schinden und vor dem Wahlvolk das Gesicht zu wahren. Oriol Junqueras von der linksrepublikanischen Esquerra Republicana, Mas wichtigster Stütze, kochte vor Wut und forderte eine sofortige einseitige Unabhängigkeitserklärung; in den Vereinslokalen der beiden grossen Unabhängigkeitsplattformen Òmnium und Assemblea Nacional war von «Betrug» und «Verrat» die Rede.
Grillwürstchen-Referendum wird zum heroischen Akt
Die einflussreichen Organisationen liessen sich fünf Tage Zeit, bevor die Präsidentinnen auf der Plaza Catalunya vor einem Meer aus gelben T-Shirts und Estelades, den sternverzierten katalanischen Pro-Unabhängigkeitsfahnen, die offizielle Position verkündeten: Ja, man unterstütze diese Befragung, den «neuen 9. November». Aber nur, wenn es Neuwahlen innerhalb der nächsten drei Monate gebe, und mit nur einem Programmpunkt: Unabhängigkeit Ja oder Nein.
Laviert geschickt zwischen allen Fronten: Kataloniens Ministerpräsident Artur Mas. (Bild: Reuters)
Eine Kröte, die nun Mas zu schlucken hat. Das Thema hätte durchaus Potenzial, die zum Zerreissen gespannte Koalition der Pro-Referendums-Parteien zu sprengen. Aber dem kommt in gewisser Weise das spanische Verfassungsgericht zuvor. Mit der vorläufigen Suspendierung verwandelte sie die Kröte der symbolischen Befragung in einen ganz annehmbaren Prinzen. Denn so wird die Durchführung des einst als «Grillwürstchen-Referendum» verspotteten Prozedere zu einem heroischen Akt. Dass eine solche Wahl vor allem die Überzeugten mobilisiert und, an demokratischen Prinzipien gemessen, durchaus anfechtbar ist, spielt keine Rolle. Wo Realpolitik nicht möglich ist, wird Symbolpolitik zur Ersatzreligion.
So kann Artur Mas vier Tage vor dem 9. November im Hotelsaal salbungsvolle Worte sprechen: «Wir verteidigen die Rechte aller Spanier: das Recht auf Meinungsäusserung, auf Partizipation, auf politische Ideen.»
Für die Abstimmung am Sonntag stehe alles bereit, den Freiwilligen drohe kein juristisches Ungemach, ihr Handeln sei durch die verfassungsmässigen Grundrechte geschützt, verspricht Mas. Im Übrigen werde seine Regierung die Madrider Regierung wegen Machtmissbrauchs verklagen. Es gibt minutenlangen Applaus.
Am späten Abend stellt sich Laia Casulà gemeinsam mit ihren Nachbarn auf den Balkon, schlägt mit Löffeln auf Töpfe und Deckel. Das Trommeln hallt durch das ganze Viertel. Bis zum Wahltag soll sich das Protestkonzert allabendlich um 22 Uhr wiederholen.
Im Radio kündigt Artur Mas erste Schritte für den Tag danach an. Er werde dem spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy einen Brief schreiben und abermals seine Dialogbereitschaft signalisieren – für weitere Verhandlungen über ein richtiges Referendum. Seine Worte gehen im Dröhnen und Klirren der Töpfe unter.