Eine kleine Nachlese zum Abstimmungssonntag zeigt: Die Schweiz wird von der Angst regiert. Die Verunsicherung ist so gross, dass sich die Bevölkerung nicht mehr vom Establishment führen lassen will und sich ein eigenes Mittel zur Krisenbewältigung verschrieben hat – die Besinnung auf den kleinstmöglichen Nenner von Heimat.
Ein Gedanke blieb in den zahlreichen Kommentaren zur Abzocker-Initiative etwas unbeachtet. Die Kommentare aus dem In- und Ausland drehten sich vornehmlich um die Arroganz der Mächtigen, um deren Gier, um Symbole, um Daniel Vasella. Was all dieser Symbolhaftigkeit allerdings zu Grunde liegt, wurde nur ganz selten thematisiert. Eine Ausnahme war Gieri Cavelty, stellvertretender Chefredaktor bei der «Nordwestschweiz». Er schrieb in seinem Leitartikel den schlauen Satz: «Das Ja zu Minder ist allerdings mehr als ein Strafzettel für fehlendes Einfühlungsvermögen: Es ist Ausdruck einer breiten Verunsicherung in Zeiten andauernd drohender Wirtschaftskrisen.»
Das trifft den Sachverhalt beim Ausgang der Abzocker-Initiative im Kern. Wir leben, und das tönt nur pathetisch, weil es auch wahr ist, in zutiefst unsicheren Zeiten. Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Eurokrise, Lebensmittelkrise – wir sind eine Generation, deren Lebensrealität von der Krisenhaftigkeit der Gegenwart geprägt ist. Das äussert sich unter anderem darin, dass alte Verbindlichkeiten nichts mehr gelten. Economiesuisse kann noch so viele Millionen Franken ausgeben, in alarmistischem Ton vor den bitteren Konsequenzen eines Jas für die Abzocker-Initiative warnen und die Ängste der Bevölkerung bewirtschaften – es nützt nichts mehr. Die reale Angst angesichts der Unsicherheit unserer Zeit ist grösser als die imaginäre Angst, die Economiesuisse mit ihrer Kampagne heraufbeschwören wollte (was mit dem Film von Michael Steiner ziemlich deutlich wurde. So deutlich, dass selbst der Wirtschaftsverband Angst vor der eigenen Angstmacherei bekam).
Die Entkoppelung vom Establishment
Darum erreichte die Minder-Initiative einen rekordverdächtigen Ja-Anteil. Weil es ein Kennzeichen von allen Krisen ist, dass breite Bevölkerungsschichten sich vom Establishment entkoppeln. Von jenem Establishment, das sich jeweils schadlos durch Krisen zu manövrieren weiss, jedenfalls solange, wie die Bevölkerung nichts dazu zu sagen hat (passend dazu auch der Text über den Vormarsch der Populisten im «Sonntag»). Tragisch am deutlichen Volks-Ja zur Abzocker-Initiative ist, dass sich an den überrissenen Gehältern der Wirtschafts-Elite nichts ändern wird. Das Stimmvolk hat Ja zu einem Versprechen gesagt und dieses Versprechen wird nicht gehalten werden können – was der Beziehung zwischen Establishment und Bevölkerung weiter schadet.
Die Krise war nicht nur das bestimmende Moment bei der Abstimmung über die Initiative von Thomas Minder; sie hat auch die anderen Abstimmungen massgeblich beeinflusst. In der Krise tendieren wir dazu, uns auf den kleinstmöglichen Nenner von Heimat zu besinnen. Im Fall des Familienartikels ist das die Kernfamilie: der arbeitende Mann, die Frau zuhause bei den Kindern. Dass die Ablehnung in den strukturschwachen, konservativen ländlichen Kantonen zum Familienartikel derart flächendeckend und konsequent war und im Stände-Nein resultierte, ist ein Abbild alter Denkmuster und wurde durch die Krise noch akzentuiert. Gleiches gilt auch für die Revision des Raumplanungsgesetzes (RGP). Das überraschende Ja zur Zweitwohnungs-Initiative und das überraschend deutliche Ja zum neuen RPG (wieder gegen die Economiesuisse übrigens) ist der Versuch einer breiten Bevölkerungsschicht, dort Einfluss zu nehmen, wo man überhaupt noch Einfluss nehmen kann. Das zu schützen, was vielerorts schon nur noch als Abbild unserer Fantasie vorhanden ist.
Die Wirtschaftskrise drückt durch
Ohne den Bogen jetzt zu weit zu spannen, lassen sich auch diverse kantonale Abstimmungen von diesem Sonntag mit der Krisenhaftigkeit unserer Zeit erklären. Wenn im Wallis SVP-Nationalrat Oskar Freysinger bei der Wahl in den Staatsrat ein besseres Resultat als sämtliche Bisherige erzielt, wenn gleichzeitig die C-Parteien ihre Mehrheit verlieren und das Bündner Stimmvolk sich gegen finanzielle Abenteuer und das ganz grosse Projekt Olympia entscheidet, sind das alles Zeichen für die zunehmende Entfremdung zwischen jenen, die entscheiden und jenen, die mit diesen Entscheidungen leben müssen. Die Krisen in der Wirtschaftswelt, sie drücken mit aller Macht auf unser austariertes Polit-System durch.