Die Stimmberechtigten von Moutier befinden am 18. Juni darüber, ob ihre Gemeinde vom Kanton Bern zum Jura wechseln soll. Die Abstimmung lässt den Jura-Konflikt einmal mehr aufleben.
Für die meisten Menschen in der Schweiz ist die Gemeinde- und Kantonszugehörigkeit bedeutungslos. In der Regel stellt sich die Frage nach einer allenfalls anderen Zugehörigkeit kaum, weil man die Verhältnisse für gegeben hält und nicht nach Verbesserungen Ausschau hält. Es gibt aber selbst in der stabilen Schweiz Orte, wo über die Zugehörigkeitsfrage diskutiert und sogar abgestimmt wird – nicht nur bei den stets häufiger zustande kommenden und von der kantonalen Obrigkeit stark geförderten Gemeindefusionen.
Im Aargau wollen Randgemeinden (Fisibach und Kaiserstuhl) einen Wechsel in den Kanton Zürich. Zuvor dachte eine Zürcher Gemeinde (Bach) an einen Wechsel in die Gegenrichtung, den Aargau. Und im komplizierten Grenzgebiet des Seelands will sich das bernische Clavaleyres mit 48 Einwohnern dem freiburgischen Murten anschliessen.
Geht man weiter zurück, stösst man auf den – 2005 allerdings gescheiterten – Wunsch der luzernischen Gemeinde Meierskappel, mit dem zugerischen Risch zu fusionieren. Und 2004 verweigerte die Solothurner Regierung der Gemeinde Eppenberg-Wöschnau die Fusion mit der Stadt Aarau, weil dies – im zerfransten Territorium des Kantons Solothurn – auch andere Gemeinden ermuntern und einen Dominoeffekt auslösen könnte.
Vielleicht ist auch in Basler Agglomerationsgemeinden da und dort die Idee einer Vereinigung mit der Stadt aufgekommen, wie das bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts in starkem Mass gewünscht worden war. Die dazu nötige Zustimmung des gesamten Kantons Baselland käme da aber nie zustande – ebenfalls wegen des zu befürchtenden Dominoeffekts.
Zum Schutz des territorialen Friedens
Wenn Gemeinden den Kanton wechseln wollen, benötigen sie nicht nur die Zustimmung der betroffenen Kantone, sondern auch die der ganzen Eidgenossenschaft. Der Artikel 53 der Bundesverfassung sieht eine Gutheissung durch National- und Ständerat vor. Der Bund ist nämlich der Garant des territorialen Friedens in der Eidgenossenschaft.
Früher war die Schwelle noch höher. Da hätten Veränderungen im Bestand der Kantone sogar der Zustimmung von Volk und Ständen bedurft. Darum musste, als die 60-Seelen-Gemeinde Vellerat vom Berner Jura in den Jura-Jura wechseln wollte und den Wechsel hartnäckig durch alle Instanzen verfolgte, das ganze schweizerische Staatsvolk (immerhin zwischen 4 und 5 Millionen Stimmberechtigte) sein Plazet dazu geben. Das geschah denn auch mit 91,7 Prozent der Volksstimmen und sämtlichen Ständestimmen. Nun hat letztes Wochenende Vellerat mit 38:8 Stimmen seine eigene Existenz aufgegeben und sich der Gemeinde Courrendlin angeschlossen. Wichtig war und ist ihm nicht die Eigenständigkeit, sondern die Zugehörigkeit zum Kanton Jura.
Etwas, das gerne Identität genannt wird
Am 18. Juni werden die Stimmberechtigten von Moutier entscheiden, ob ihre Gemeinde im Kanton Bern bleiben oder in den Kanton Jura wechseln soll. Dieser allfällige Kantonswechsel ist, wie derjenige von Vellerat, überhaupt nicht gleichzusetzen mit den anderen zurzeit geplanten Kantonswechseln, die ausschliesslich von praktischen und materiellen Fragen bestimmt sind, das heisst in der Absicht der Vereinfachung der Administration oder in Anbetracht der bereits zusammengelegten Institutionen (etwa Feuerwehr und Altersheime).
In Moutier geht es in mehrfacher Beziehung um mehr. Da geht es um etwas, das gerne Identität genannt wird: um tiefere Zugehörigkeit zu Gebilden, die mit bestimmten Werten, Kulturen, Mentalitäten aufgeladen sind. Entsprechend wird für einen Verbleib oder Wechsel geworben.
Pro-Berner können die erprobte 200-jährige Gemeinschaft geltend machen; in einem Appell heisst es, Moutier gehöre zum Körper oder Fleisch (chair) des Berner Juras, es sei Teil einer Gemeinschaft, die auf Solidarität und Berechenbarkeit setzt. Die Aufforderung lautet, sich nicht auf ein «tollkühnes geopolitisches Abenteuer» einzulassen.
Die Pro-Jurassier haben die über 1000 Jahre alte Gemeinschaft des Fürstbistums auf ihrer Seite, die Idee eines zusammengehörenden jurassischen Volkes (peuple jurassien) und das Argument, dass dieses Volk durch das von Bern zusätzlich inszenierten Juraplebiszit von 1975 auseinandergerissen worden sei, was nun teilweise korrigiert werden könne; Moutier bilde das Herzstück des ganzen Jura.
Von welchem Kanton kann Moutier mehr finanzielle Hilfe erwarten?
Neben den identitären Aspekten sind doch auch die praktischen und materiellen Fragen wichtig. Wie wirkt sich ein Wechsel auf die Steuern, etwa die Gebühren fürs Auto aus? Wird das Spital von Moutier weiterbetrieben? Mit welcher Zugehörigkeitsvariante wird es eher gelingen, den wirtschaftlichen Niedergang der letzten Jahre zu stoppen und Moutier zu neuer Blüte zu verhelfen? Von welchem Kanton kann Moutier mehr finanzielle Hilfe erwarten?
Die letzte Frage berührt einen Punkt, der im Verhältnis zum Kanton Bern seit Jahrzehnten wichtig gewesen ist: Liefert die Region mehr Steuersubstrat an den Kanton, als er an Staatsleistungen (für Schule, Wohlfahrt, Gesundheit, Verkehr und Verwaltung) zurückerhält?
Im Vorfeld der Abstimmung hat der Kanton Bern, der an sich gut rechnen kann, mit einer falschen Zahl den Eindruck vermittelt, dass Bern ein grosszügiger Nettozahler an das schwache Moutier sei. Doch am 30. Mai musste er die Angaben gewaltig korrigieren und einräumen, dass Moutier wesentlich mehr abliefert, nämlich 24 statt nur 14 Millionen Franken, und damit selber Nettozahler zugunsten des Kantons ist.
In den ausgebreiteten Zahlen spielen kurioserweise auch nur die Zahlungen eine Rolle, die durch den nationalen Finanzausgleich (NFA) an strukturschwache Regionen ausgeschüttet werden. Da fliessen 30 Bundes-Millionen nach Moutier, beziehungsweise nach Bern oder später eben in den Jura.
Berner Rechenschwäche oder Propaganda?
Die anfänglichen Fehlangaben der Berner werden von Pro-Jurassiern als bewusste Abstimmungsbeeinflussung interpretiert. Sollte ihr Lager knapp verlieren, werden sie möglicherweise das Resultat mit einer Beschwerde anfechten, weil die Richtigstellung erst erfolgte, nachdem der Abstimmungsprozess bereits angelaufen war. Verdächtigungen richten sich auch gegen das von einem berntreuen Verwaltungsrat geleitete Spital mit der Befürchtung, dass das Personal dort die Patienten beeinflussen könnte.
Eine andere Befürchtung gilt der Möglichkeit, dass Anhänger des einen oder anderen Lagers die Niederlassung (ihrer «Papiere») nach Moutier verlegt haben könnte, um mit ihrem Abstimmungstourismus den Ausgang in ihrem Sinn zu beeinflussen. Es ist beeindruckend, dass nach schweizerischem Recht selbst für eine Frage dieser Art (also nicht bloss für Zonenordnungen oder Budgetposten) alle Zugezogenen nach einer Quarantänezeit von drei Monaten über grosse Schicksalsfragen voll mitbestimmen können.
Militante Jurassier, die sich an einem ethnischen Volksbegriff orientierten, hätten in den heissen 1970er-Jahren die Eingewanderten deutschsprachigen Berner nicht gerade ausschliessen, aber die aus- und abgewanderten, also für immer ortsabwesenden Jurassier gerne mitbestimmen lassen.
Linke will wechseln, SVP bleiben
Die Behörden beruhigen nun, es gebe keine auffälligen Veränderungen im Stimmregister, die Zahl der Stimmberechtigten habe seit November 2016 lediglich um 20 Personen oder 0,5 Prozent zugenommen. Der Bestand der Abstimmungsberechtigten wurde zum Stichdatum 18. März genau ermittelt: Es sind 4579 Personen (2374 Frauen und 2205 Männer). Veränderungen nach oben kann es keine mehr geben, nur nach unten durch Wegzüge – und Todesfälle.
Jetzt melden sich auf beiden Seiten auch Exponenten zu Wort, die nicht für sich beanspruchen können, mit den Vorfahren «schon immer» hier gewesen zu sein. Die Eltern des pro-jurassischen Moutier-Bürgermeisters und Lehrers Marcel Winistoerfer (CVP) sind aus dem Solothurnischen eingewandert. Eine bekennende pro-bernische Altersheimleiterin, Morenza Pozner, ist italienisch-schweizerische Doppelbürgerin – und Sozialistin.
Wie stellen sich die Parteien zur Zugehörigkeitsfrage? Die Linke dürfte eher für einen Wechsel sein, mehrheitlich sicher auch die CVP, während der Freisinn zum Verbleiben neigt und die SVP sicher für Bern eintritt. Selbst der Präsident der SVP Schweiz, der Berner Albert Rösti, reiste nach Moutier. Die Parteistärken in den fraglichen Kantonen spielen ebenfalls eine Rolle: Entweder will man bei dem Kanton bleiben, in dem die SVP stark ist, oder in den Kanton mit einer starken CVP wechseln.
Aufbruch vs. Kontinuität
Die konfessionelle Zugehörigkeit könnte am Rande ebenfalls eine gewisse Rolle spielen: Der Südjura ist protestantisch, der Norden katholisch. Das zum Süden gehörende Moutier hat erst durch die Arbeitseinwanderung (von Italienern, Spanier, Portugiesen) eine katholische Mehrheit von 68 Prozent bekommen. Wie aber das Beispiel von Morenza Pozner mit ihren italienischen «Wurzeln» zeigt, führt dies nicht automatisch dazu, dass ein Wechsel in den katholischen Kanton befürwortet würde.
Das Bern-Lager, das Bewährtheit geltend macht, ist eher rückwärtsgerichtet, das Jura-Lager eher zukunftsorientiert. Letzterem wird aber ebenfalls Retro-Mentalität nachgesagt, weil es sich an dem vor über 40 Jahren geführten Kampf orientiere. Bis zu einem gewissen Grad dürfte neben den materiellen und identitären Fragen die mentale Disposition entweder zur Wahrung der Kontinuität und Risikovermeidung oder zu Aufbruch und Wagnis bestimmend sein und last but not least die Familientradition sowie der Einfluss des weiteren Bekanntenkreises.
Warum muss oder darf Moutier über seine kantonale Zugehörigkeit überhaupt abstimmen und das zum etwa siebten Mal seit 1959? Aus der Sicht der Berntreuen ist es eher ein Müssen, aus der Sicht der Juraanhänger ein Dürfen.
Die Fehler von 1815 und von 1970
Blicken wir zurück: Aus der Erbmasse des Fürstbistums Basel stellten die konservativen Mächte des Wiener Kongresses dem ebenso konservativen und deutschsprachigen Kanton Bern ganz im Stile der Zeit ohne Volksbefragung den frankophonen Jura zur Verfügung, und zwar als Ausgleich für den ebenfalls von Wien bestätigten Verlust alter Herrschaftsgebiete (Waadt und Teile des Aargaus).
Zudem wollte man damit Bern als Bollwerk gegen das stets revolutionäre Frankreich stärken. Die richtigere und schon damals am Rande erörterte Lösung hätte darin bestanden, aus dem Jura einen eigenen 23. Kanton der Eidgenossenschaft zu machen.
Später, nach der Berner Grundsatzabstimmung von 1970, die dem jurassischen Kantonsteil ein Selbstbestimmungsplebiszit einräumte, hätte der weitere Weg auch darin bestehen können, aus den je drei Bezirken des Südjura und des Nordjura zwei Halbkantone zu machen. Dieses vom Historiker Herbert Lüthy 1972 vorgeschlagene Modell, das eine gute Mischung von Unterscheidung und Gemeinsamkeit gebracht hätte, erhielt von beiden Seiten aber nicht die nötige Unterstützung.
Doppelte Abstimmungsrunde
Die Konfliktparteien haben im Laufe der Zeit im Umgang mit der komplizierten Situation hinzugelernt. Das wichtigste Produkt dieses Lernprozesses war die unter dem Patronat des Bundesrats 1994 geschaffene bi-kantonale Assemblée Interjurassienne (AIJ). Doch es brauchte Jahre, bis 2012 Bern und Jura in einer gemeinsamen Absichtserklärung ein enorm progressives Prozedere verkündeten: eine doppelte Abstimmungsrunde a) zur Schaffung eines aus Süden und Norden bestehenden Gesamtkantons und b) im Falle eines doch zu erwartenden Neins im Süden die Möglichkeit, dass alle Gemeinden in Einzelabstimmungen über einen allfälligen Übertritt in den Norden entscheiden können. Darüber hat die Tageswoche im November 2013 ausführlich berichtet.
Die erste Runde brachte im Süden erwartungsgemäss keine Mehrheit für einen gemeinsamen Kanton. Die zweite Runde steht jetzt bevor, zunächst in Moutier, dann am 17. September in kleinen Nachbargemeinden (Belprahon mit 300 und Sonvilier mit 268 Bewohnern). Zwei weitere Gemeinden (Grandval und Crémines), die sich ebenfalls in der vorgeschriebenen Frist von zwei Jahren bis zum November 2015 für diese Runde angemeldet hatten, wollen inzwischen von einer Abstimmung absehen.
Man will das Jura-Dossier nicht ewig offen lassen und die Zugehörigkeitsfrage endlich und für immer zu einem Abschluss bringen.
Nun hat aber die neben Vellerat liegende Gemeinde Roches mit ihrer 220-Seelen-Bevölkerung ebenfalls ein Interesse an einer solchen Abstimmung angemeldet. Da dies nicht innerhalb der vorgesehenen Zweijahresfrist erfolgt ist, wird, wie sogar Bundesrätin Simonetta Sommaruga als Justizministern bestätigen musste, diesem Begehren nicht stattgegeben. Man will das Jura-Dossier nicht ewig offen lassen und die Zugehörigkeitsfrage endlich und für immer zu einem Abschluss bringen.
«Für immer» – das war schon mehrfach und vor allem in den 1970er-Jahren die Losung. Dieser Problematik innewohnende Dynamik jedoch sorgte dafür, dass es trotzdem weiterging. Am 18. Juni, heisst es, wird eine Seite im Buch der Geschichte umgeblättert. Es wird ein altes Kapitel geschlossen, zugleich aber ein neues eröffnet, weil das Buch nicht an sein Ende gekommen ist. Ob die im Frühherbst durchgeführte Zusatzabstimmung die letzte Jura-Abstimmung ist, wird die Zukunft weisen.
Wie immer die Motive der einzelnen Abstimmungsteilnehmer und –teilnehmerinnen sind, vom Resultat wird man sagen müssen, dass es von gesamtschweizerischer Bedeutung sei.
Noch weniger Frankophone in Bern
Wer auf der Seite des Kantons Jura steht, beharrt auch auf dem für die Gemeinden geltenden Selbstbestimmungsrecht und hofft, dass mit der Gemeinde Moutier in einer nächsten Phase der ganze Moutier-Bezirk und nach diesem mit der Zeit auch die beiden anderen Bezirke Courtelary und La Neuveville folgen werden. Im Sinne der neueren Beweglichkeit ist im Fall von La Neuveville allerdings auch schon an einen Wechsel zum benachbarten Kanton Neuenburg gedacht worden.
Wer auf der Seite des Kantons Bern steht, verweist auf übergeordnete Interessen. Theoretisch könnten insgesamt etwa 8000 Menschen den Kanton wechseln, knapp ein Fünftel der Bevölkerung des frankophonen Berner Jura. Die Zweisprachigkeit des Kantons könnte mit einer verkleinerten französischsprachigen Minderheit nicht mehr im bisherigen Ausmass die gerne beschworene gesamtschweizerische Brückenfunktion wahrnehmen. Diesen Aspekt betont auch die Stadt Biel/Bienne stark, denn sie käme bei der Bildung eines jurassischen Grosskantons in eine isolierte Lage.
Um am 18. Juni eine ordentliche und nicht anfechtbare Durchführung der Abstimmung zu gewährleisten, wird auch der Bund einbezogen. Alle brieflichen Stimmabgaben müssen an das Bundesamt für Justiz nach Bern geschickt werden und werden, zusätzlich versiegelt, zur Auszählung nach Moutier geschickt. Und vor Ort wird die Abstimmung von sieben Bundes-Beobachtern beaufsichtigt. Und in Moutier werden zur Sicherheit alle Stimmzettel zweimal gezählt.
Vorsicht vor Spaltung
In Moutier leben etwa 7600 Menschen, davon haben rund 4600 ein Stimmrecht. Gehen wir von einer Stimmbeteiligung von 75 Prozent aus, dann stehen sich in der angenommenen 50:50 Konstellation je rund 1700 Pro und Contra gegenüber. Mithin werden in einem Urnengang, der auch von gesamtschweizerischer Bedeutung ist, ganz wenige Stimmen den Ausschlag geben.
Es gibt in der Demokratie immer solche, die anderer Meinung sind. So wühlen diese Zugehörigkeitsfragen die betroffenen Menschen auf und führen, mindestens vorübergehend, zu dem, was man Spaltungen nennt. Die Sieger, auf welcher Seite auch immer sie stehen, werden mit den Verlierern sorgsam umgehen müssen.