Nicht einmischen oder intervenieren – der Krieg in Syrien zeigt einmal mehr, wie die UNO zwischen den Eigeninteressen ihrer Mitglieder in die Handlungsunfähigkeit gerät.
Syrien ist Gründungsmitglied der UNO und ein Produkt der europäischen Kolonialherrschaft. Theoretisch ist es zudem ein Land, dessen Grenzen und Regierung respektiert werden sollten. In der heutigen Realität ist es aber ein Land, in dem etwa eine Viertelmillion Menschen zu Tode gekommen und Abermillionen vertrieben worden sind (6,6 Millionen innerhalb des Landes, 4,5 Millionen aus dem Land). Da stellt sich die dringende Frage: Wer ist für diese Bevölkerung und dieses Land zuständig?
Gemäss – eigentlich – geltender Weltordnung ist ein Land selbst verantwortlich beziehungsweise seine Regierung. Für die UNO gilt gemäss Art. 2,4: «Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.» Andere Staaten beziehungsweise die Staatengemeinschaft sind also nicht zuständig für «innere» Fragen eines Landes.
Zuständig im «Innern» ist im Fall Syriens das Assad-Regime, das aus der herrschenden Baath-Partei nach parteiinternen Machtkämpfen hervorgegangen ist. Vater Hafiz al-Assad liess sich 1971 mit 99,2 Prozent der Stimmen (ohne Gegenkandidaten) zum Staatspräsidenten wählen. Nach dessen Tod wurde im Juli 2000 Sohn Baschar mit 97,29 Prozent Stimmen (wiederum ohne Gegenkandidaten) zum nächsten Präsidenten gekürt. Zuvor musste allerdings schnell, schnell die Altersbestimmung der Verfassung geändert werden, damit Baschar gewählt werden konnte.
Geld ist leichter aufzubringen als verbindliches Engagement.
Die an Baschar angemachte Herrschaft ist nicht legitimer oder illegitimer als viele andere Herrschaften dieser Welt. Die Legitimitätsfrage verschärft sich aber in dem Masse, als die einem Regime ausgesetzte Bevölkerung leidet. Das war etwa auch bei Robert Mugabe so, dem Staatschef von Simbabwe, bei dessen Bestätigungswahlen stets grobe Unregelmässigkeiten vorkamen. Wegen der Hungersnot in diesem Land sprach sich Jean Ziegler, der UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, für eine militärische UNO-Intervention gegen die Regierung Mugabes aus.
Mit Syrien muss sich die Welt bereits seit Längerem befassen: diplomatisch-politisch, humanitär, militärisch. Letzte Woche sind die diplomatischen Verhandlungen in Genf, kaum halbwegs begonnen, bereits wieder vertagt worden. Sozusagen parallel dazu hat in London eine hochdotierte Geberkonferenz stattgefunden. Geld ist (sofern es je ausbezahlt wird) leichter aufzubringen als verbindliches Engagement.
Und in dieser Woche hat der UNO-Menschenrechtsrat einen alarmierenden Bericht veröffentlicht, wonach in syrischen Haftanstalten und Gefangenenlagern Tausende von Menschen gequält und getötet worden sind. Auch die Medien berichten tagtäglich über das systematische Aushungern der Bevölkerung ganzer Regionen.
Der auf Souveränität pochende Assad ist längst nicht mehr souverän, sondern in höchstem Mass von Moskau und Teheran abhängig.
Militärische Interventionen finden bekanntlich ebenfalls seit Längerem statt, in verschiedenen Formen, mit Waffenlieferungen, mit externen Milizen und vor allem mit Bombardierungen, und dies in verschiedenen Richtungen: gegen die Truppen des Islamischen Staats (IS), gegen die verschiedenen Varianten der syrischen Oppositionskräfte (Freie Syrische Armee), kaum aber gegen die reguläre Assad-Armee. Dies alles geschieht ohne UNO-Mandat.
Der UNO-Sicherheitsrat ist handlungsunfähig. Die im eigenen Hause zur Despotie neigenden Regimes in Russland oder China sehen in Assad einen legitimen Herrscher, dessen Macht wieder hergestellt werden müsse. Dies, obwohl sich Assad massiv an seinem «eigenen» Volk vergriffen hat und für den Tod von Hunderttausenden von Menschen hauptverantwortlich ist. Kommt hinzu, dass der auf Souveränität pochende Assad längst nicht mehr souverän, sondern in höchstem Mass von Moskau und Teheran abhängig ist.
Assad selber gibt sich überzeugt, dass «sein» Volk hinter ihm steht und dieses Volk aus einem breiten Spektrum von Religionen und Ethnien besteht. Diejenigen aber, die 2011 im Arabischen Frühling den Fehler begingen, freie Meinungsäusserung zu beanspruchen und deswegen einer massiven Repression ausgesetzt waren, gehören nicht zu Assads «Volk».
Der kriminelle Charakter eines Regimes schliesst nicht aus, dass man mit ihm verhandeln muss.
Für den syrischen Machthaber sind die Aufstände ausschliesslich das Werk fremder Mächte – und Terroristen. Seiner Position kommt entgegen, dass im Gegenlager tatsächlich der Terrorismus des IS wütet, der das Assad-Regime an Unmenschlichkeit noch übertrifft.
Assad selbst sagt: «Wir sind ein souveränes Land. Ob es nun einen guten oder schlechten Präsidenten gibt, das ist eine rein syrische Angelegenheit, keine europäische. (…) Wir verschwenden darauf gar keinen Gedanken. Das syrische Volk entscheidet, wer geht oder bleibt. Wenn das Volk mich nicht mehr haben will, dann muss ich sofort gehen, noch heute. (…) Allerdings, wenn sie mich weghaben wollen, müssen sie den Weg über die Wahlurne nehmen.»
Wie kann man mit jemandem verhandeln, der diese Position einnimmt? Allerdings schliesst der kriminelle Charakter eines Regimes nicht aus, dass man mit ihm verhandeln muss, wenn es von unmittelbarem Nutzen für die direkt betroffenen Menschen ist. Das hat man schon 1995 mit Milosevic in Dayton gemacht, obwohl kein Zweifel bestehen konnte, dass er ein Kriegsverbrecher war.
Im Fall von Assad kann es aber nicht um die völlige Restauration seines Regimes gehen, sondern nur um eine für alle Seiten akzeptable Übergangsordnung und eine Art freien Abgang für den Despoten.
Irgendwo wird sich schon eine schöne Residenz finden, so wie für Idi Amin, den auf Lebenszeit gewählten Präsidenten Ugandas, für den 1979 in der saudi-arabischen Stadt Dschidda ein Plätzchen gefunden worden ist. Der als Schlächter von Afrika titulierte Ex-Diktator starb dort im August 2003, von der Welt völlig vergessen, an Bluthochdruck und Nierenversagen.
Die Fragwürdigkeit der «humanitären Intervention» zeigt sich nicht nur in der Anwendung, sondern auch in der Nichtanwendung.
Das UNO-Prinzip der Nichteinmischung wurde erstmals beiseite geschoben, als in den Jahre 1992–1995 in Somalia mit einer als «humanitären Intervention» bezeichneten Invasion versucht wurde, für die Bevölkerung lebbare Verhältnisse wiederherzustellen. Das Scheitern dieser militärischen Mission und die kontroverse Beurteilung der 1999 von der Nato ohne UNO-Mandat unternommenen Intervention im Kosovo sind nicht dazu angetan, dass man diesen Weg heute zuversichtlich erneut beschreiten könnte.
Das Prinzip der «humanitären Intervention» ist inzwischen zur Schutzverantwortung (responsibility to protect) weiterentwickelt worden und von der UNO-Generalversammlung 2005 anerkannt worden. Es ist aber umstritten und unverbindlich. 2011 diente es als Legitimation der Intervention in Libyen. Was aus dieser Aktion zum Schutze des «Volkes» gegen Diktator al-Gaddafi geworden ist, haben wir gesehen.
Die Fragwürdigkeit dieses Prinzips zeigt sich nicht nur in der Anwendung, sondern auch in der Nichtanwendung in zahlreichen anderen Fällen, denen die Weltgemeinschaft ziemlich gleichgültig gegenübersteht, wenn kein drängendes politisches Interesse besteht.
Werden Menschen aus Aleppo weggebombt, sind viele nicht über ihre Vertreibung, sondern über ihr allfälliges Ankommen bei uns entsetzt.
Die «humanitäre Intervention» im ursprünglich angedachten Sinn würde Sicherung der Bevölkerung auch auf dem Boden, und das heisst mit Bodentruppen, erfordern. Davor schreckt man verständlicherweise zurück und konzentriert sich auf Luftschläge. Diese ziehen stets – ungewollt oder auch sehr gewollt – die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft.
Perfiderweise nutzt nun Russland ohne jede humanitäre Zielsetzung diese Interventionsformel, um den Assad-Truppen die Rückeroberung von Gebieten zu ermöglichen, die bisher unter Verfügungsgewalt der Opposition waren. Das schwächt deren Position auch in den diplomatischen Verhandlungen. Während wir uns zu Recht über die russische Intervention in der europäischen Ukraine aufhalten, sind wir weniger berührt, wenn Schlimmeres im nichteuropäischen Syrien geschieht. Werden Menschen aus Aleppo weggebombt, sind viele nicht über ihre Vertreibung, sondern über ihr allfälliges Ankommen bei uns entsetzt.
Das russische Draufgängertum mit geächteten Streubomben läuft den Westmächten den Rang ab. Gestoppt oder umgelenkt könnte es nur werden, wenn Russlands Hauptinteresse, die Sicherung seiner langjährigen Stützpunkte auf syrischem Territorium (Latakia und Shayra), auch in einer Nach-Assad-Ära akzeptiert würde.
Es stellt sich die ewig wiederkehrende Frage, was für wen das kleinere Übel ist. Als Zaungäste der internationalen Politik haben wir dazu nichts zu sagen, aber wir sollten wenigstens eine Meinung zu den verschiedenen Optionen haben und zu dem, was sich schliesslich durchsetzt.