Unser fremder Nachbar

Das Elsass aus unseren Träumen gibt es nicht mehr. Die feinen Restaurants im Leymen gibt es nicht mehr. Aus den pittoresk verschlafenen Dörfern im Sundgau sind öde Schlafdörfer geworden. Abgesang auf eine sterbende Region.

Blick ins Sarkozy-Land: Im Sundgau (hier Huningue mit der neuen Fussgängerbrücke über den Rhein) hat der Staatspräsident immer noch eine Mehrheit hinter sich. (Bild: Mark Niedermann)

Das Elsass aus unseren Träumen gibt es nicht mehr. Die feinen Restaurants im Leymen gibt es nicht mehr. Aus den pittoresk verschlafenen Dörfern im Sundgau sind öde Schlafdörfer geworden. Abgesang auf eine sterbende Region.

Als wir Mitte der 70er-Jahre ein Haus im Elsass (richtiger: im Sundgau) bezogen, war der Krieg, der mehr als zwei Jahrzehnte zurücklag, noch gegenwärtig. Jene Einheimischen, die über 40 waren, hatten Erfahrungen damit gemacht, die den Menschen jenseits der Grenze, hinter der ich geboren war, erspart geblieben waren: als Evakuierte im unbesetzten Frankreich; als Zwangsarbeiter, die in den Osten umgesiedelt worden waren; als Soldaten in Russland oder als Eltern oder Geschwister von Söhnen und Brüdern, die nicht von dort zurückgekehrt waren; von den Juden, die deportiert worden waren, gar nicht zu reden (über die redete man auch nicht).

Die liebenswürdige Rückständigkeit

Es war üblich, über diese Zeit zu sprechen, auch wenn es – zumal in Gegenwart von Fremden – nicht üblich war, darüber zu reden, was sich während des Kriegs zu Hause zugetragen hatte. Über Kollaboration mit den Deutschen, über fehlenden oder geleisteten Widerstand sprach man vor Fremden nicht. Doch die Schweizer aus Basel und dem Jura (damals noch Kanton Bern), die das Elsass besuchten, kamen nicht, um mit den Elsässern Kriegserfahrungen auszutauschen, sondern um preiswert Spargel, Steak frites und gebackenen Karpfen, Münsterkäse und Wein zu geniessen.

Attraktiver als alle Tafelfreuden aber war die liebenswürdige Rückständigkeit, die dem Sundgauer Elsass die exotische Note verlieh, die man zu Hause einfach als Mangel empfunden hätte. Es war nicht französisches Flair, dem man hier begegnete, sondern jene Art pittoreske Entbehrung, die nicht durch Ressentiments gegenüber den wohlhabenden Fremden vergiftet wurde. Wenn die Elsässer über jemanden schimpften, dann über die Franzosen, die Regierung und die Bürokratie, nicht über die Schweizer, denen es besser ging.

Diese liebenswerte Gestrigkeit, von der man schon damals ahnte, dass auch sie eines Tages dem Fortschritt zum Opfer fallen würde, illustrierten bei uns der Bach, der offen durchs Dorf floss, üppige Gemüsegärten, frei laufende Hühner und gepflegte Bäume, die das Obst für den Schnaps lieferten, den man selber brennen durfte. Telefonanschluss hatte nur das Restaurant mit dem grossen Saal, in dem fast jeden Samstag Hochzeitsbankette stattfanden. Rief einen jemand aus Basel an, wurde die Tochter oder der «Dorftrottel» – ja, auch den gab es noch – ausgeschickt, um einen ans Telefon zu holen.

Arbeiten in der Schweiz

Es gab einen Pfarrer für 300 Einwohner, einen Ausrufer, der offizielle Bekanntmachungen ausposaunte und statt Läden Bäcker, Metzger und Epiciers, die mehrmals wöchentlich vom aufklappbaren Wagen verkauften. Die Bevölkerung bestand mehrheitlich aus Klein- oder Kleinstbauern, die ein, zwei Milchkühe, ein Schwein, Geflügel und einen Kettenhund hielten und Äcker und Felder bestellten; doch von den mageren Erträgen allein konnte niemand leben.

Also arbeiteten die Männer als Hilfsarbeiter im grenznahen Laufen (bei Alusuisse oder in der Keramikfabrik), in Sochaux (bei Peugeot), bei Sibir in Huningue oder in der Umgebung von Mülhausen; die kleine Fabrik, die im Dorf angesiedelt war, bot nur gerade einem Dutzend Männern Arbeit. Da kaum jemand ein Auto besass, gab es unzählige Arbeiterbusse, die die Einheimischen – ausschliesslich Männer – aufsammelten und zu ihrem Arbeitsplatz fuhren. Der Weg dorthin konnte, je nachdem, in welchem Dorf man lebte, viel Zeit in Anspruch nehmen, entsprechend lang war der Tag, der mit der Heimkehr nicht beendet war. Zu Hause erwartete einen Arbeit im Stall und auf dem Feld. Ein Zurücklehnen gab es nicht, allenfalls ein späteres Verdämmern vor dem Fernseher (den besass schon damals jede Familie).

Von diesen beschwerlichen Stunden wussten die Nahtouristen aus der Schweiz, die zu «Bertelé» nach Leymen oder in die «Bonne Auberge» nach Ferrette fuhren (beide haben längst geschlossen), nichts. Die Dörfer, durch die sie fuhren, waren tagsüber wie ausgestorben, das Landleben fand offenbar woanders, vielleicht nur in der Köpfen der Städter statt. Der Versuch, das Land als romantische Vorstellung rustikalen Lebens zu erwecken, wurde den Schweizern überlassen, die sich «im Elsass ein Haus kauften», weil sie die Rückständigkeit nicht störte, sondern anzog, und weil hier die Grundstücke – verglichen mit der Schweiz – noch erschwinglich waren.

Der Bach fliesst unterirdisch

Im ländlichen Sundgau – dem Hinterland Basels, das einst zum Bistum gehört hatte – war damals fast alles anders als in der Schweiz. Heute sind die Ähnlichkeiten augenfälliger als die Unterschiede: Der Bach wurde kanalisiert und fliesst unterirdisch, den Gemüsegärten sind Gartenzwergkolonien oder blitzblank manikürte «pelouses» gewichen, Hühner gibt es nur noch tot im Supermarkt, Schnaps brennen ein paar übrig gebliebene Hardliner, die meisten Obstbäume wurden gefällt oder fielen von allein um.

Während jedermann Telefonanschluss, Internet und Handy hat, wurde der «Dorftrottel» längst anderweitig untergebracht; einen Pfarrer gibts höchstens alle paar Sonntage (ein einziger ist heute für ein Dutzend Gemeinden zuständig); Kühe besitzen bloss noch die wenigen Grossbauern, die man sich nicht als Krösusse vorstellen darf; die kleine Fabrik hat ihre Tore kürzlich geschlossen. Zu den weit entfernten Arbeitsplätzen (Basel, Riehen, Reinach) fährt man heute mit dem eigenen Pkw; die Endlosschlangen Richtung Basel (morgens) und Richtung Altkirch (abends) haben den Abendfrieden längst aufgehoben.

Zu Hause erwartet einen keine lästige Stallarbeit mehr, sondern die Ehefrau, die ebenfalls gerade von der Arbeit – in Basel und Umgebung – kommt, und die Kinder, die in ihrer Abwesenheit von bezahlten Tages- oder unbezahlten Grossmüttern versorgt werden. Der Schreiner, der vor 20 Jahren noch im Familienbetrieb arbeitete, der längst bankrott gemacht hat, ist ebenso als Angestellter in die Schweiz «abgewandert» wie der Maler- oder Spenglermeister, der die Nase voll hatte, sich mit dem französischen Finanzamt herumzuschlagen, und nun keine unternehmerische Verantwortung mehr tragen muss.

An den wenigen Stammtischen, die es noch gibt, treffen sich hauptsächlich Rentner. Wer am nächsten Morgen (im EuroAirport, bei Novartis, Roche, Migros, Coop oder Manor) arbeitet, verlässt das Haus am Abend nicht; das tun nur die, die Nachtschicht haben. Kein Wunder, dass die Dörfer in der Dämmerung genauso ausgestorben wirken wie bei Tag.

Die Schlafdörfer im Sundgau

Nur samstags beleben in den Sommermonaten die Motoren der Rasenmäher die Stille, an die man sich beinahe gewöhnt hat. Nicht anders als in einem Schweizer Dorf. Nur dass es dort einen Flugplatz für Leichtflugzeuge (ULM), wie es ihn in unserem Dorf gibt, nicht gäbe, weil diese Freizeitplage in der Schweiz nicht zugelassen ist, weshalb die Schweizer Kundschaft nach Frankreich ausgewichen ist.

Anders als die nördlich gelegenen Winzerdörfer am Fuss der Vogesen, in denen vor Ort im Rebberg gearbeitet wird, sind die Sundgauer Dörfer rund um Basel Schlafdörfer geworden, die sich von städtischen Suburbs nur durch ihre geringeren Dimensionen unterscheiden. Man arbeitet in der Schweiz, trinkt sein Bier aber zu Hause. Man strebt morgens weg, wohin es einen abends wieder zieht.

Das «wahre» Leben findet woanders statt als dort, wo man acht Stunden am Tag zubringt. Eheschliessungen zwischen Elsässern und Schweizern sind selten. An freien Tagen fährt man mit den Kindern nicht in den Basler Zoo, sondern in den Europapark nach Rust. Ob es damit zu tun, dass die Schweiz so teuer ist, oder ob man sich im tiefsten Inneren fremd geblieben ist, weiss ich nicht. Wen soll man fragen?

Kundschaft für schwere Kost stirbt aus

In letzter Zeit scheint es, als ob auch die Schweizer das Elsass ein wenig vernachlässigen würden (auch wenn die Départementales an warmen Wochenenden auch weiterhin gern als Fahrradwege benutzt werden). Dass «das Elsass» – bei dem es sich natürlich um eine Verallgemeinerung handelt – auf bedenkliche Weise an jener gastronomischen Attraktivität verloren hat, für die es einst so berühmt war, hängt damit zusammen, dass das Markgräflerland auf eine Weise aufgeholt hat, wie man es sich vor 30 Jahren nicht vorstellen konnte, wohingegen im Sundgau kaum Anstrengungen unternommen werden, sich auf diesem Gebiet zu erneuern.

Restaurants, die einst beliebte Ausflugsziele waren, wurden geschlossen oder sind schlecht besucht, weil sie den Zug der Zeit – leichteres Essen, das eine innovative Küche bedingen würde, die man hier mit der Lupe suchen muss – verpasst haben. Die Kundschaft für schwere Kost aber stirbt aus.

Innovation ist nicht alles, aber am Festgefahrenen festhalten, wie man am AKW Fessenheim festhält, fördert Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit dem Elsass und den Elsässern gegenüber aber könnte prekäre Folgen haben. Und wäre es nur die, dass man bloss noch die Strassen benutzte, ohne anzuhalten und einzukehren. Noch schlimmer aber wäre es, nicht zuzuhören, was die anderen sagen, oder nicht zu bemerken, worüber sie schweigen.

Die Schweiz bloss als Arbeitgeber zu sehen, ist ebenso einfältig wie das Elsass lediglich als einen Landstrich zu betrachten, der Arbeitnehmer liefert und sonst nichts. Es wäre an der Zeit, den «Baeckeofe» einer Erneuerung zu unterziehen und die öltriefenden Carpes frites für eine Weile von der Karte zu nehmen. Austausch tut not auf allen Seiten, nach allen Seiten.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 04.05.12

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