Mathias Binswanger ist einer der einflussreichsten Ökonomen der Schweiz und ein scharfer Kritiker des Wirtschaftssystems. Besonders im Visier hat er das Gesundheitswesen, wo er die Interessen der Patienten bedroht sieht.
Mathias Binswanger ist ein Mann mit vielen Hüten. Er schrieb Bücher darüber, wie immer neues Geld entsteht, über unser Glück, die Landwirtschaft und künstliche Wettbewerbe. Ein solcher herrscht auch in unserem Gesundheitssystem. Ein Gespräch über künstliche Krankheiten, Spritzen in Kuba und die Interessen der Medikamentenhersteller.
Sie gehören zu den hartnäckigsten Kritikern unseres Gesundheitssystems. Haben Sie noch Vertrauen in Ihren Hausarzt?
Wenn ich einen hätte, wahrscheinlich schon. Mein früherer Hausarzt wurde aber bereits vor einigen Jahren pensioniert, und um einen neuen habe ich mich bisher nicht gekümmert. Insgesamt ist mein Vertrauen in die Ärzte aber nicht erschüttert. Das Problem sind nicht die Ärzte, sondern die Gestaltung des Systems.
Was passt Ihnen nicht daran?
Im Gesundheitswesen haben wir mit der Einführung der Fallkostenpauschale einen künstlichen Wettbewerb geschaffen. Dieser zwingt die Ärzte und das Pflegepersonal dazu, sich immer stärker nach ökonomischen Kriterien auszurichten. Dabei werden die Patienten zunehmend als ein Portfolio betrachtet, das es zu optimieren gilt.
Das klingt sehr zugespitzt.
Ist aber tatsächlich der Fall. Spitäler werden heute an erster Stelle nach ihrem finanziellen Resultat beurteilt. In Deutschland können wir beobachten, wie seit der Einführung der Fallpauschale bestimmte Eingriffe deutlich zunehmen. Vor allem standardisierte Eingriffe wie Hüft- und Knieoperationen, die mit lukrativen Pauschalen verbunden sind, weisen ein enormes Wachstum auf. So wird die Gesundheitsversorgung mit der Fallkostenpauschale teurer statt günstiger, weil diese perverse Anreize setzt.
«Statt der Gesundheit stehen die Kosten im Vordergrund.»
Weshalb pervers?
Weil die eigentlichen Bedürfnisse der Patienten in diesem Wettbewerb nicht zur Geltung kommen und statt der Gesundheit die Kosten im Vordergrund stehen. Ein Beispiel aus dem früheren Indochina zur Zeit der französischen Kolonialregierung veranschaulicht, was ich meine.
Die misslungene Bekämpfung der Rattenplage?
Genau, dann kennen Sie es ja bereits.
Sie haben es bei einem anderen Auftritt bereits erzählt. Die britische Kolonialmacht wollte die Ratten bekämpfen und zahlte für jedes tote Tier eine Prämie.
Und was ist passiert? Die Leute begannen, Ratten zu züchten. Und im Gesundheitswesen ist es ähnlich. Wir leben in einem System, wo es sich lohnt, ständig neue Krankheiten zu entdecken und zu diagnostizieren. Und manchmal auch zu erfinden. Die Fallpauschale setzt den Anreiz, die Zahl der sich lohnenden Operationen besonders stark zu erhöhen. Das entspricht aber nicht den Bedürfnissen der Patienten.
Im Sinne, nur ein kranker Patient ist ein guter Patient?
Genau, auch Grenzwerte sind dafür ein gutes Beispiel. Weil diese beispielsweise beim Cholesterin immer mehr gesenkt worden sind, wurden per Definition immer mehr Menschen krank und konnten dann mit entsprechenden Medikamenten behandelt werden. Davon profitieren diejenigen, welche diese Medikamente herstellen, aber die Gesundheitskosten werden dadurch in die Höhe getrieben.
Sie sagen, die Ärzte leiden selber darunter. Wer treibt denn diese Entwicklung voran?
Der Ursprung dieser Idee ist bereits 30 Jahre alt. Damals kam vor allem in England das New Public Management auf. Der Staat sollte mithilfe künstlicher Wettbewerbe auf Effizienz getrimmt werden und sich so de facto wie ein privates Unternehmen verhalten. Von England schwappte diese Entwicklung dann nach Deutschland und von dort in die Schweiz über. Doch statt mehr Effizienz werden perverse Anreize geschaffen. Ein Wettbewerb ist nur ökonomisch effizient, wenn er auf einem funktionierenden Markt stattfindet. Künstlich inszenierte Wettbewerbe sind eine Art Rückfall in die sowjetische Planwirtschaft, wo man auch versuchte, mithilfe von künstlichen Wettbewerben Effizienz zu schaffen, was kläglich scheiterte.
«Zeit mit einem Patienten zu verbringen ist ein reiner Kostenfaktor.»
Können Sie diesen Zusammenhang genauer erklären?
Neben den Fallpauschalen versucht man zunehmend, auch einen Qualitätswettbewerb unter Spitälern und Ärzten zu etablieren. Die «Qualität» von Spitälern wird dann anhand von Indikatoren gemessen, wie die vorschriftsmässige Verabreichung aller Medikamente oder der technische Stand der verwendeten Geräte. Die Folge davon ist ein Trend in Richtung stets teurerer Hightech-Spitäler, wo den Patienten viele Medikamente verabreicht werden, aber Ärzte und Personal immer weniger Zeit für sie haben. Denn Zeit mit einem Patienten zu verbringen, ist ein reiner Kostenfaktor.
Wenn das so offensichtlich ist, wie Sie das schildern …
… das ist nicht offensichtlich. Das System ist immer schwerer zu durchschauen.
Was wäre Ihr Vorschlag, wie man dem entgegenwirken sollte?
Man muss sich von Ideen wie der Fallpauschale verabschieden. Das vorherige System setzte auch falsche Anreize. Spitäler wurden bezahlt pro Tag, den sich Patienten dort aufgehalten haben. Damit war ein Anreiz gegeben, die Patienten möglichst lange zu behalten. Der Charme dieses Anreizes lag aber darin, dass er leicht durchschaubar und korrigierbar war.
Die Fallpauschalen werden sich nicht so bald rückgängig machen lassen.
Ganz im Gegenteil. Sie werden nächstens auch auf die Psychiatrie ausgedehnt. Gleichzeitig wächst die Kritik an dem System, zurzeit vor allem in Deutschland. Irgendwann wird man Gegenmassnahmen ergreifen müssen, damit die Kosten wieder in einem Verhältnis zu der tatsächlichen Nachfrage stehen.
Welche Folgen befürchten Sie für die Psychiatrie?
Bei psychischen Erkrankungen ist der Graubereich für Diagnosen noch viel grösser als bei körperlichen Krankheiten. Wenn es sich beispielsweise finanziell lohnt, eine Schizophrenie zu diagnostizieren, wird die Zahl der Diagnosen steigen.
«Bei psychischen Erkrankungen ist der Graubereich für Diagnosen noch viel grösser.»
Weshalb gibt es keine stärkere Lobby, die sich gegen die von Ihnen beschriebenen Entwicklungen einsetzt?
Patienten haben keine starke Lobby und gleichzeitig ein Informationsdefizit. Die Ärzte wiederum haben zunehmend weniger Einfluss auf die Ausgestaltung des Gesundheitswesens. Das hat damit zu tun, dass die Kliniken kaum mehr von Ärzten geleitet werden. Heute ist der Klinikleiter typischerweise ein Manager.
Gibt es denn Länder, die wir uns als Vorbild nehmen sollten?
Es gibt vor allem negative Beispiele, wie man es nicht machen sollte. Schauen wir uns die USA an, dort wurden künstliche Wettbewerbe schon seit Langem über Fallpauschalen und über leistungsgerechte Vergütungen eingeführt. Dadurch ist die USA inzwischen zum weltweit teuersten, aber nicht zum qualitativ besten Gesundheitssystem geworden.
Gesundheit geniesst zurzeit bei uns einen so hohen Stellenwert wie kaum je zuvor. Woher kommt dieser Trend?
Es ist der einzige Markt, der garantiertes Wachstum verspricht. Weil wir immer älter werden und die Möglichkeiten für Prävention und Behandlung immer mehr zunehmen. Es geht um viel Geld, entsprechend viel stecken die Unternehmen auch in ihr Marketing.
Teilen Sie dieses Streben nach Gesundheit?
Heute müssen wir eher aufpassen, dass wir uns nicht zu stark mit der eigenen Gesundheit befassen. Persönlich kümmere ich mich nicht um irgendwelche Messwerte. Ich ernähre mich einigermassen gesund und versuche, in Bewegung zu bleiben.
«Wenn wir aber am frühen Morgen die Menschenmengen beobachten, dann haben wir nicht das Gefühl, dass es sich hier um eine besonders glückliche Gesellschaft handelt.»
Sie betätigen sich ja auch als Glücksforscher. Was untersuchen Sie da genau?
Was Glücksforscher interessiert, sind Lebenszufriedenheit und das emotionale Wohlbefinden der Menschen in einem Land. Aus diesen beiden Teilen setzt sich unser Glücksempfinden zusammen.
Und wie glücklich sind wir in der Schweiz?
Im Vergleich mit anderen Ländern schneidet die Schweiz in Umfragen sehr gut ab. Wenn wir aber am frühen Morgen beispielsweise am Hauptbahnhof von Zürich die Menschenmengen beobachten, dann haben wir nicht das Gefühl, dass es sich hier um eine besonders glückliche Gesellschaft handelt.
Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?
Man weiss, dass Menschen bei Befragungen ihr Glücksempfinden zu hoch angeben. In der Deutschschweiz ist dieses Phänomen besonders ausgeprägt nach dem Motto: Man hat ja alles, also muss man auch zufrieden sein. In der Westschweiz oder im Tessin schneidet die Bevölkerung in Umfragen schlechter ab. Dabei sind sie kaum unglücklicher als wir, haben aber eher eine durch Frankreich und Italien beeinflusste Mentalität, sich zu beklagen.
Welche Rolle spielt die Gesundheit für unser Glücksempfinden?
Sobald Gesundheit nicht mehr selbstverständlich ist, wächst ihre Bedeutung. Deshalb spielt sie bei älteren Menschen eine viel grössere Rolle als bei Jungen.
«Die hygienischen Bedingungen im Spital in Kuba waren ein heilsamer Schock, weil ich unter allen Umständen sofort wieder raus wollte.»
Sie reisen häufig nach Afrika, Asien oder Lateinamerika. Wie erleben Sie den Umgang in wirtschaftlich ärmeren Ländern mit dem Thema Gesundheit?
Grosse Unterschiede sehe ich im Sozialleben. Bei uns vereinsamen im Alter viele Menschen. Ein Problem, das sich auch auf das Wohlbefinden und die Gesundheit auswirkt. Im Geldverdienen sind wir Profis. Weniger gut sind wir hingegen darin, ein mit Freude erfülltes Leben zu führen. Es geht darum, dass wir uns wieder vermehrt darum kümmern, was ein gutes und glückliches Leben ausmacht.
Waren Sie selber jemals krank auf einer Reise?
Ich bin mehrmals erkrankt und war auch schon in einigen Spitälern. In Kuba hatte ich einmal hohes Fieber und musste mir eine Spritze geben lassen. Die hygienischen Bedingungen im Spital waren ein heilsamer Schock, weil ich unter allen Umständen sofort wieder raus wollte. Für die erhaltene Spritze musste ich andererseits nie etwas bezahlen.
Wer in den Süden reist, kann sich gegen allerlei impfen lassen. Wie halten Sie es damit?
Ich mache gar keine Impfungen ausser den obligatorischen. Auch Malariaprophylaxe betreibe ich nicht. Wer viel reist, muss damit rechnen, einmal krank zu werden. Das lässt sich auch mit noch so viel Impfungen nicht vermeiden, weil immer wieder andere Krankheitserreger ihr Unwesen treiben.
Da glauben Sie nicht an die Wirkung von Impfungen?
Es ist grundsätzlich gut, skeptisch zu sein. Wirtschaftliche Interessen spielen überall mit.
Wir sollten also grundsätzlich skeptisch gegenüber der Wirtschaft sein?
Wir leben bei uns in einer Wirtschaft, in der wir zunehmend alles haben, was wir brauchen. Viele Bedürfnisse sind eigentlich gesättigt. Das Ziel der Wirtschaft besteht deshalb weniger darin, bestehende Bedürfnisse abzudecken, sondern neue zu schaffen. Etwa bei den Mobiltelefonen, wo jedes Jahr ein neues Modell auf den Markt kommt. Das ist eine künstliche Anheizung des Konsums, um das Wachstum aufrechtzuerhalten. Unsere Wirtschaft ist zunehmend durch solche Mechanismen getrieben, und deshalb sollten wir auch skeptisch sein. Oftmals tragen diese Angebote nicht mehr viel zu unserem Wohlbefinden bei.
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«Die eingebildete Gesundheit: mehr oder weniger oder andere Medizin?»: Dreitägiges Symposium im Philosophicum im Ackermannshof in Basel, Donnerstag 5. März bis Samstag 7. März. Am Freitag, 14 Uhr, diskutiert Mathias Binswanger mit der Direktorin des Krankenkassenverbandes Santésuisse, Verena Nold Rebetez, über das schweizerische Gesundheitssystem.