Trotz «Volkszorn» in Seelisberg und rechter Polemik – das Flüchtlingswesen in der Schweiz funktioniert.
Das «Asylchaos» ist gemäss der Bundesratspartei mit den grösseren und kleineren Blochern eine grosse Landessorge. Gemeint ist damit, dass die Schweiz derart viele Flüchtlinge aufnehme, dass sie die Aufgabe nicht bewältigen könne. Ein kleiner Beitrag zur Beschränkung des Chaos wird zurzeit an der Südgrenze geleistet, wo die unter der Verantwortung eines SVP-Bundesrats stehenden Mannen dann und wann auch minderjährigen Asylsuchenden gesetzeswidrig die Aufnahme verweigern.
Die Chaosbekämpfung der SVP hat von anderen Parteikräften jedoch Konkurrenz erhalten. Zuvorderst vom neuen Präsidenten der sich christlich nennenden Partei. Im Originalton meinte er warnen zu müssen: «Wir laufen auf katastrophale Zustände zu.» Eine Katastrophenwarnung, die Eritrea offenbar als sicheres Drittland eingestuft sehen möchte.
CVP-Präsident Gerhard Pfister ist aber nicht alleine. Der Schwyzer Volkswirtschaftsdirektor Kurt Zibung, ebenfalls CVP, meldete gegen ein temporäres Ausreisezentrum auf einem Grundstück, das dem Bund gehört, äussersten Widerstand an. Überboten wird er allerdings vom Luzerner Sozialdirektor Guido Graf (CVP), der permanent medienwirksam gegen die Flüchtlingspolitik des Bundes polemisiert und sich dabei auch die Schlagzeile eingehandelt hat: «Vom Hinterbänkler zum Asylguru». Die Jungen Grünen des Kantons Luzern versuchten im vergangenen Jahr vergeblich, ihn mit einem über Crowdfunding finanzierten Eritrea-Ticket zu beglücken, damit er sich ein Bild vor Ort machen könne.
Der «Volkszorn» in Seelisberg
Das «Asylchaos» wird nicht vom Bund verursacht, sondern von einzelnen Gemeinden, die sich dagegen wehren, zugeteilte Asylsuchende zu beherbergen. Nationale Bekanntheit hat der Widerstand der Urner Gemeinde Seelisberg erlangt. Der «Volkszorn» der 700-Seelen-Gemeinde richtet sich sowohl gegen die Unterbringung von 60 Asylsuchenden als auch gegen die Vorgehensweise der Urner Sozialdirektorin Barbara Bär (FDP).
Die Seelisberger Dorfopposition macht drei Einwände geltend:
- Dass da nur junge Männer wohnen werden, wobei betont wird, dass Frauen und Kinder kein Problem wären: «Wir sind keine Rassisten.»
- Dass die von der BaZ zu einem Asylzentrum hochstilisierte Unterkunft im Dorfzentrum vorgesehen ist, wo es keinen Polizeiposten, aber eine Schule gibt.
- Und dass der Verteilschlüssel nicht stimme: Seelisberg mache nur zwei Prozent der Kantonsbevölkerung aus, müsste nach vorliegendem Plan aber 30 Prozent der Asylsuchenden des Kantons aufnehmen.
Der Informationsabend musste – was eine eidgenössische Unerhörtheit ist – vorzeitig abgebrochen werden, ohne dass die wüst beschimpfte Magistratin aus Altdorf (wo es übrigens ebenfalls eine Asylunterkunft gibt) informieren konnte. Mit «geschickterem» Vorgehen hätte Regierungsrätin Bär den Eklat womöglich vermeiden können.
So aber bleibt den Urnern nur noch die Notbremse. Wie am 16. August bekannt wurde, verzichtete der Kanton vorläufig auf die Unterbringung von Asylsuchenden in Seelisberg. Zudem wird Barbara Bär das Geschäft entzogen. Stattdessen wird ein regierungsrätlicher Asylausschuss unter dem Vorsitz von Landammann Beat Jörg eingesetzt.
Wer nicht direkt gegen Flüchtlingshilfe sein will, richtet seine Kritik gegen die Arroganz der oberen Behörden.
Man kann sich tatsächlich fragen, ob das abgelegene Seelisberg ein geeigneter Unterbringungsort für junge unterbeschäftigte Männer ist. Und das politisch wenig sensible Vorgehen hat es den grundsätzlichen Aufnahmegegnern leicht gemacht, gegen das Projekt anzutreten. Wer nicht direkt gegen Flüchtlingshilfe sein will, richtet seine Kritik gegen die vermeintliche oder tatsächliche Arroganz der oberen Behörden.
Die BaZ macht aus der Urner Regierungsrätin eine willfährige «Handlangerin Sommarugas», sie zitiert anonyme Stimmen, welche Bär als inkompetent und im Amt gescheitert abtun, und erklärt genüsslich, dass die so Abqualifizierte zu den Vorwürfen nicht Stellung nehme.
Ihrer politischen Linie entsprechend, stellte sich die BaZ ganz auf die Seite der opponierenden Gemeinde. Diese würde wie Untertanen des 18. Jahrhunderts behandelt, wenn man erst aus einem während der Ferienzeit versandten Einladungsschreiben zum Informationsabend erfahre, was unmittelbar bevorstehe und bereits beschlossene Sache sei. Während es den Seelisbergern zum Teil um die konkrete Unterkunftsfrage geht, nimmt das Basler Blatt den Fall zum Anlass, um generell für weniger Aufnahmen von Flüchtlingen zu plädieren und die vom «Volk» im Juni angenommene Asylgesetzrevision infrage zu stellen.
Dass ein leer stehendes Haus zu haben ist, kann nicht per se standortbestimmend sein.
Ein wichtiger Faktor in diesem Fall ist die Tatsache, dass ein stillgelegtes Hotel mit dem schönen Namen «Löwen» als Unterkunft vorgesehen ist. Sein Besitzer, ein Zuger Unternehmer, Eigentümer zahlreicher Immobilien und vielleicht stramm «bürgerlich» stimmend, stellt diese Liegenschaft gegen gutes Geld zur Verfügung und erklärt, dass ihm die Art der Nutzung egal sei, ob Konferenzzentrum oder Asylunterkunft.
Diese Nonchalance dürfen sich Behörden aber nicht leisten. Dass ein leer stehendes Haus zu haben ist, kann nicht per se standortbestimmend sein. Beinahe obligatorische Ingredienz einer solchen Affäre ist, dass gegen die Regierungsrätin das Gerücht in Umlauf gesetzt wurde, ihr Mann habe mit finanziellen Interessen die Vermietung des «Löwen» eingefädelt.
SVP-Ständerat Hannes Germann, Präsident des Schweizerischen Gemeindeverbands, zeigt Verständnis für den Unwillen der Seelisberger. Die Gemeinden seien die «Basis unseres föderativen Systems», man dürfte sie nicht, wie geschehen, vor vollendete Tatsachen stellen. Es bleibt aber die Frage, wer nach der Phase des miteinander Redens das letzte Wort hat.
Politik der Abrissbirne
Seelisberg ist ein Fall von mehreren. Immer wieder gibt es Berichte über Proteste. Dass diese sich verflüchtigen und die Verhältnisse sich wie im aargauischen Asylzentrum von Bremgarten weit weniger dramatisch erweisen als angenommen, ist dann meistens keine Nachricht mehr wert.
Im Aargau wurde für die Kleinstgemeinden, die sich nicht an der Unterbringung von Flüchtlingen beteiligen können, eine Ersatzsteuer eingeführt: zehn Franken pro Person und Tag. In der Folge wurde diese Möglichkeit von rund einem Drittel der 213 Gemeinden genutzt, auch von Oberwil-Lieli, wo der fürchterliche Landammann und SVP-Zuständige für Flüchtlingsfragen Andreas Glarner das Regime führt. Inzwischen ist die Ersatzabgabe auf 110 Franken angehoben worden und haben sich bis auf eine Gemeinde alle mehr oder weniger bereit erklärt, Flüchtlinge aufzunehmen. In der Presse konnte man lesen, sie hätten «klein beigegeben».
Die eine Gemeinde ist diejenige von Landammann Glarner. Da wurde sogar ein Haus abgerissen, um auf jeden Fall eine Unterbringung zu vermeiden. Statt der Aufnahme von zehn Personen reservierte Glarner lieber gegen 300’000 Franken im Gemeindebudget.
In der Schweiz herrscht zumindest im Verhältnis Bund–Kantone kein Chaos, sondern Ordnung.
SVP-Asylchef Glarner erklärte vor laufender Kamera: «Das mag unsolidarisch wirken, aber wir müssen ein Zeichen gegen die völlig verfehlte Asylpolitik setzen.» Und, wer ein Umdenken einleiten wolle, der müsse zuweilen auch ungehorsam sein. Ein Statement für Chaos der eigenen Art. Vielleicht findet aber auch diese Gemeinde zur angesagten Ordnung zurück. Sie klärt eine Lösung mit Nachbargemeinden ab und schliesst sogar nicht aus, selber eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen.
Ein entgegengesetztes Zeichen setzte ein Bio-Bauer aus seiner Gemeinde, indem er vorübergehend zwei afghanische Flüchtlinge beschäftigte und dazu erklärte: «Ich will den Leuten zeigen, dass Asylbewerber ganz normale Menschen sind, die auch ihre Sorgen und Ängste haben.»
In der Schweiz herrscht zumindest im Verhältnis Bund–Kantone kein Chaos, sondern Ordnung. Die Fragen werden im Rahmen der Sozialdirektorinnen- und der Justizdirektorinnen-Konferenzen sorgfältig abgesprochen, zuweilen auch mit Beizug des Gemeindeverbands.
Allerseits befriedigende Lösungen sind nicht möglich.
Gestützt auf die Bevölkerungszahlen (allerdings leicht veraltet aus dem Jahr 1997) und in Anrechnung von anderen Leistungen in diesem Bereich (für die zusätzlichen Bundeszentren und Flughafenzentren) gibt es einen klaren Schlüssel, nach dem der Bund den Kantonen Flüchtlinge zuweist. Zürich steht da mit 17 Prozent an der Spitze, Uri mit 0,5 Prozent am Ende! Der Aargau hat 7,7 Prozent der Flüchtlinge zu übernehmen, Basel-Stadt 2,3 Prozent und Basel-Landschaft 3,7 Prozent.
Die Flüchtlingspolitik wird ein Dauerthema bleiben. Allerseits befriedigende Lösungen sind nicht möglich. Trotz einzelner Widerborstigkeiten kann man feststellen, dass die Schweiz im Vergleich zur EU auf die Herausforderungen bisher in vorbildlicher Weise reagiert hat.