Unsere Sehnsucht nach Frank Underwood

Serien wie «House of Cards», «Borgen» oder «West Wing» sind nicht nur grossartige Unterhaltung. Sie haben auch einen Einfluss auf unsere Politik.

Kevin Spacey als Frank Underwood, rücksichtslose Hauptfigur in der Serie «House of Cards».

Serien wie «House of Cards», «Borgen» oder «West Wing» sind nicht nur grossartige Unterhaltung. Sie haben auch einen Einfluss auf unsere Politik.

«I pray to myself. For myself.» Es gibt keinen besseren Ort, seine Gottesferne zu beweisen, als eine anständige Kirche. Auf den Knien, so wie es Frank Underwood tut. Die Hände zum frommen Gebet gefaltet, den Blick scheinbar unterwürfig nach oben. Und dann mit Karacho. Frank Underwood braucht keinen Gott, er braucht nicht einmal einen Teufel. Frank Underwood braucht nur Frank Underwood. Eine Menschmaschine, befeuert vom unersättlichen Hunger nach Macht. Von der Gier bestimmt, von der Gier definiert.

Frank Underwood, Senator der Demokraten mit Ambitionen auf das Amt des Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika (und auf mehr!), ist die unheimliche und faszinierende Hauptfigur der US-Serie «House of Cards». Die Serie wirft einen düsteren und zynischen Blick auf die Washingtoner Politik. Im Zentrum steht eben jener Frank Underwood (gespielt von Kevin Spacey), der in der ersten Folge vom Präsidenten um den Posten als Aussenminister gebracht wird und danach auf Rache sinnt. Kaltblütig und berechnend schiebt er gemeinsam mit seiner nicht minder kaltblütigen und berechnenden Frau Claire Politiker, Journalisten und Lobbyisten auf dem Spielfeld der Macht umher.

Seit dem 14. Februar 2014 können wir herausfinden, wie es Frank Underwood als Vizepräsident ergeht. Netflix, ein amerikanischer Internet-Filmdienst, hat die gesamte zweite Staffel zum Download bereitgestellt – und gleichzeitig eine dritte Staffel in Produktion gegeben.

Am Anfang war «The West Wing»

Alles andere als eine Fortsetzung der Geschichte rund um Underwood wäre auch eine Überraschung gewesen: Der Erfolg von «House of Cards» war in Amerika und Europa überwältigend.

Und nicht ganz neu: Am Anfang jener Ära, in der Serien erzähltechnisch das Fernsehen überflügelten, jener Ära, die uns Serien wie «24», «Homeland», «The Wire», «The Sopranos» oder «Breaking Bad» brachte, steht ebenfalls eine Erzählung aus dem politischen Zentrum der Vereinigten Staaten. In «The West Wing» folgten die Zuschauer ab 1999 in sieben Staffeln dem Geschick des demokratischen Präsidenten Josiah «Jed» Bartlet und seinem Team. Ein Meilenstein der Seriengeschichte in Sachen Anspruch, Machart und Eloquenz.

«House of Cards» nimmt offen Bezug auf «The West Wing». Die Szene, in der Frank Underwood vor seinem entscheidenden Schachzug in der letzten Folge der ersten Staffel in der Kirche zu sich selber betet, ist eine Reminiszenz an die beste Folge, die «The West Wing» zu bieten hat. Jene grossartige Stunde Fernsehen am Ende der zweiten Staffel, in der sich Präsident Bartlet nicht entscheiden kann, ob er für eine zweite Amtszeit kandidieren soll. Auch Bartlet steht in einer Kathedrale, auch er hat ein Zwiegespräch. Nicht mit sich selber wie Underwood, sondern mit Gott. In Latein erhebt der Präsident, gespielt von Martin Sheen, Anklage gegen jenen Gott, der ihm eine Folge vorher seine Sekretärin genommen hat, ihm einen Tropensturm schickte und ihm auch sonst überall Hindernisse in den Weg stellt.

Die beiden Szenen in der Kirche sind beispielhaft für den Ton der ­Serien. Höchster Grad der Gottesauflehnung in «The West Wing» ist die lateinische (und nicht untertitelte) Anklage und eine halb gerauchte ­Zigarette in der Kathedrale. Underwood ist in «House of Cards» weniger zimperlich: Er zündet sich nach seiner Selbstpreisung eine Kerze an – und bläst alle anderen aus.

«House of Cards» drückt auch die Enttäuschung über Obama aus.

Der unterschiedliche Ton der beiden Polit-Serien reflektiert auch den tatsächlichen Bezug der fiktiven Inhalte zur Realität. «The West Wing» war zu Beginn der Nuller-Jahre die Flucht des liberalen Amerika vor ­Georg W. Bush in ein Amerika, wie es auch hätte sein können. Es war eine Serie voller Hoffnung, voller Optimismus, voller gescheiter und idealistischer Menschen. Es war die eindringlich, aber höflich vorgetragene Bitte um eine Veränderung.

Vom Messias zum Menschen

Zehn Jahre später ging diese Hoffnung des liberalen Amerika mit dem ersten schwarzen Präsidenten in Erfüllung – und wurde dennoch brutal enttäuscht. Barack Obama begann als Messias und ist Mensch geworden. «House of Cards» ist Ausdruck dieser Enttäuschung. Oder wie es die «New York Times» kürzlich ausdrückte: «‹West Wing› war der Traum, wie unsere Regierung sein könnte. ‹House of Cards› ist der Albtraum, wie unsere Regierung tatsächlich geworden sein könnte.»

Die Serien haben eine tatsächliche Wechselwirkung mit den aktuellen Zuständen, sie spiegeln diese. Die Wirkung ist aber nicht auf die USA beschränkt. Auch im kleinen Polit-Biotop der Schweiz werden Serien wie «The West Wing», «House of Cards» oder das europäische «Borgen» (eine Serie um eine fiktive dänische Premierministerin) verschlungen und euphorisch rezipiert.

Seriensüchtige Politiker: von Claudio Zanetti (SVP) bis Sarah Wyss (SP)

Einer der glühendsten Anhänger von «The West Wing» ist der Zürcher SVP-Kantonsrat Claudio Zanetti. Er spricht über die Redenschreiber von Jed Bartlet wie über gute Bekannte. Über Toby, seinen absoluten Liebling («E sture Siech!»), über Sam, den Idealisten oder Josh den Luftibus («Dafür ist er cheibe schlau!»). Zanetti ist überzeugt, dass fiktive Polit-Serien einen direkten Einfluss auf die tatsächliche Politik haben. So wie Mafia-Filme wie «Der Pate» oder «Scarface» stilbildend für die Gangsterkultur gewesen seien, nähmen auch «The West Wing», «House of Cards» oder «Borgen» Einfluss auf den Habitus der ­Politiker.

Zanetti hat kürzlich im Zürcher Kantonsrat beantragt, im Haus ein paar Sofas aufzustellen. Sofas, wie sie in den Büros von Josh, Toby oder Sam stehen – Sofas, «auf denen wir einfach etwas gescheit reden könnten», wie es Zanetti sagt.

Der SVP-Politiker, ein Urkonservativer, hat die Serie verschlungen, obwohl sie vor allem linke Ideen transportiert. Weil sie so intelligent gemacht ist und anständig mit dem politischen Gegner umgeht. «Die Konservativen in der Serie werden nicht einfach als Dummköpfe porträtiert.» Zanetti wünschte sich mehr solche Unterhaltung, mehr Engagement und Leidenschaft in der Art und Weise wie Politik erzählt wird, gerade Schweizer Politik. «Stoff hätte es doch mehr als genug!»

Stoff vielleicht schon. Aber nicht die Leute, die ihn auch angemessen umsetzen können. Die «Zeit» war 2013 auf einer Studienreise mit Schweizer Drehbuchautoren und Fernsehmachern in Dänemark, wo im Moment die besten europäischen Fernsehserien produziert werden. Sie traf dabei Ingolf Gabold, einen der Väter von «Borgen». Der sagte mit Blick auf die Schweizer Ambitionen: «Was die Schweizer noch nicht begriffen haben: Stoffe fürs Fernsehen müssen sich stets um das eigene Land drehen, aber sie müssen auch eine zentrale Fragestellung beinhalten, die europäisch oder gar global ist. Wir sind doch nicht nur Dänen, wir sind auch Europäer oder gar Weltbürger. Da scheint mir die Schweiz noch ein bisschen zu sehr nach innen zu denken.»

In der Schweiz funktioniert erzählte Politik nur episodisch – und nicht über die lange Dauer. «Das Problem am Thema Politik ist, dass es in einer seriellen Erzählform schwer zu vermitteln ist», sagte Stefano Semeria, TV-Programmleiter SRF kürzlich der Fernsehzeitschrift «Tele»: «Die Herausforderung ist es, das Ganze so zu verdichten, dass der Erzählstrang für die Zuschauer interessant genug ist.»

Politik fassbar machen

Dokfilmer Jean-Stéphane Bron ist einer der wenigen, die Schweizer Politik so im Film erzählen können, dass es auch Menschen ausserhalb des politischen Alltags interessiert. In «Mais im Bundeshuus» schaffte es Bron, die trockenen Kommissionssitzungen zu einem neuen Gesetz über Gentechnik auf fesselnde eineinhalb Stunden zu kondensieren. Auch «L’Expérience Blocher», sein Film über das Phänomen Christoph Blocher, zeigte, dass Schweizer Politik packend erzählt werden kann – selbst wenn der Blocher-Film (was seinem Hauptdarsteller geschuldet war) eher ambivalent aufgenommen wurde.

Auch Hansjürg Zumstein, Dokfilmer bei SRF, beherrscht die Fähigkeit, Politik für ein Fernsehpublikum fassbar zu machen. Seine Filme über die Hildebrand-Affäre oder die Abwahl von Christoph Blocher aus dem Bundesrat gehören zum Spannendsten, was das Schweizer Fernsehen im Dok-Bereich in den vergangenen Jahren produziert hat. Seinem Selbstverständnis als politischer Dokumentarfilmer haben die Serien aus Amerika geholfen. Zumstein: «Die Serien zeigen, dass man mit Politik auch ein grösseres Publikum faszinieren kann.» Allerdings sieht Zumstein in der Schweiz leider kaum Potenzial für eine grössere Politik-Serie wie sie ­Dänemark hat. Der Grund: Das Deutschschweizer Publikum habe auf Produktionen, die fiktional über Schweizer Politik berichten, meist skeptisch bis ablehnend reagiert.

Es bleibt also beim Episodischen – aber auch das kann man gut und weniger gut machen. «Es kommt immer auf die Geschichte an», sagt Zumstein. Auf den Blick zurück, auf den grösseren Rahmen, die neue Dimension. Es tönt banal, was der Filmer sagt, aber es trifft den Kern: Es braucht gar nicht viel Fantasie, es braucht nur ein feines Gespür für die herrschenden Verhältnisse.

Wenn man diese Verhältnisse in einen Spannungsbogen bringt und eine Geschichte erzählen kann, dann ist man gar nicht mehr so weit weg von den Serien aus den USA oder Dänemark. Die Annäherung der dokumentierten Realität an die Fiktion geschieht auf einer technischen und einer narrativen Ebene. Technisch, weil heute auch Dokumentationen mit dem gleichen Material wie Filme oder Serien gemacht werden. Die neuen Kameras erlauben mehr Tiefenschärfe, sattere Bilder. Narrativ, weil sich Politiker (und die Journalisten) in ihrem Habitus an die Vorbilder aus den USA angenähert haben.

Man kann sich eine Szene, wie etwa jene aus dem Film über Blochers Abwahl von Hansjürg Zumstein, als sich CVP-Präsident Christophe Darbellay und die damalige SP-Fraktionschefin Ursula Wyss feixend vor der Kamera über ihr Abwahl-Komplott ausliessen, nicht ohne den Kontext der fiktiven Ränkespiele denken, die wir aus dem Washington von «The West Wing» oder dem Kopenhagen in «Borgen» kennen. Der Konsum dieser Serien hat unseren Blick auf die Politiker verändert und er hat ziemlich ­sicher auch das Bild der Politiker von sich selber verändert.

Die Mechanismen der Macht

«Die Serien haben unser Bewusstsein für die Mechanismen der Macht geschärft», sagt der Politgeograf Michael Hermann dazu. «Es wird gezeigt, dass die Mechanismen auch etwas Spielerisches haben und manchmal mehr von Taktik als von Ideologie geprägt sind. Hier trifft die Fiktion die Realität.» Einen konkreten Einfluss auf die Politiker sieht Hermann höchstens in deren Auftreten. Wenn es um tatsächliche politische Inhalte geht, wird der Graben zur Realität grösser. In Serien wie «The West Wing» setzt sich zum Schluss – meistens – das Gute durch (und wird auch als solches erkannt). In der realen Politik ist das Ergebnis nicht immer derart klar definiert und fassbar, und auch die realen Politiker wissen nicht immer so genau, was sie wollen wie Jed Bartlet oder Frank Underwood. Mehr Kompromiss, mehr Vagheit, weniger Spannung.

«Trotzdem vermitteln die Politserien auch viel Wahrheit», sagt die Basler SP-Grossrätin Sarah Wyss, eine glühende Anhängerin von «Borgen». Natürlich arbeite man im Grossen Rat nur kantonal, an kleinen Problemen einer kleinen Stadt. «Aber die Mechanismen sind die gleichen.» Es werde gerangelt, gerungen, um Kompromisse gefeilscht. «Freunde von mir, die ‹Borgen› gesehen haben, fanden das ­alles übertrieben. Ist es nicht!»
Serien wie «Borgen» würden ­einem als Politiker den Spiegel vorhalten, sagt Wyss, und das tue gut. Auf die Frage, ob «Borgen» auch die Sehnsucht der kantonalen Politikerin nach der gros­sen Bühne und den wirklich wichtigen Themen weckt (so wie in Journalisten der Wunsch nach der richtig grossen Enthüllungsstory befeuert wird), druckst Sarah Wyss herum und meint dann etwas ausweichend: «Es ist einfach eine mitreissende Geschichte.» Und das ist, geheime Wünsche und Sehnsüchte und Nacheifereien beiseite, ja mindestens so viel.
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Mit diesem Text verabschiedet sich unser Redaktionskollege Philipp Loser von Ihnen und von uns. Er wechselt zum «Tages-Anzeiger» nach Zürich. Wir danken ihm herzlich für die schöne Zeit – und wünschen ihm viel Glück und Erfolg!

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 14.02.14

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