Unter die Räder gekommen

Der Suizid einer Asylsuchenden aus Eritrea in Liestal wirft Fragen auf. Warum tötete sich die Frau, obwohl die Ausschaffungsfrist abgelaufen war und sie bleiben durfte? 

Jeder Verfahrensschritt lief gegen die junge Mutter, die in der Schweiz um Asyl bat.

Der Suizid einer Asylsuchenden aus Eritrea in Liestal wirft Fragen auf. Warum tötete sich die Frau, obwohl die Ausschaffungsfrist abgelaufen war und sie bleiben durfte? 

Am 6. September 2011 überquert die junge Eritreerin F. mit ihren Kindern die Schweizer Grenze. Illegal, wie später in den Gerichts­akten vermerkt ist. Sie ist auf der Flucht. Nicht mehr aus ihrer Heimat, aber aus dem Land, das ihr Schutz ­gewährt hat.

Noch am selben Tag registriert die Empfangsstelle für Asylsuchende in Basel ihren Besuch. F. ist gekommen, um ein Aufnahmegesuch zu stellen. Sie will ein Asylverfahren in der Schweiz und nicht in Italien, wohin sie 2006 nach einer Odyssee durch Afrika­ gelangt ist. Sie will es so sehr, dass sie sagt, sie bringe sich lieber um, als nach Italien zurückzukehren.

Am Samstag, dem 17. November dieses Jahres, setzt F. ihre Ankündigung in die Tat um. Pfleger finden sie leblos auf der Toilette der Psychiatrischen Klinik Liestal. In die Klinik wurde sie gebracht, nachdem die Beamten an ihre Wohnungstüre in einem Baselbieter Dorf geklopft hatten, um sie zum Flughafen zu bringen. Der Ausschaffungsversuch löste bei F. einen Nerven­zusammenbruch aus, welcher wiederum einen Fürsorgerischen Frei­­heitsentzug wegen Selbstgefährdung nach sich zog.

«Ein sehr, sehr tragischer Fall»

Rund eine Woche ist F. auf der Akut-station. Während dieser Zeit, am 15. November, läuft die Frist ab, in der sie die Schweiz nach Italien ausschaffen kann. Zwei Tage nach diesem für sie so wichtigen Datum nimmt sich F., 33-jährig, das Leben.

Zurück bleiben ihre drei Kinder im Alter von zwei, vier und fünf Jahren – und eine Frage: Wieso hat sich F. umgebracht, just nachdem sich ihre Hoffnung, in der Schweiz bleiben zu können, erfüllt hatte?

Der Tod von F. löst in der Basel­bieter Sicherheitsdirektion Fassungslosigkeit aus. Adrian Baumgartner, Sprecher der Behörde, sagt, der Suizid sei nicht zu verstehen: «Es bestehen nach unserer Wahrnehmung keine Zweifel, dass die Frau wusste, dass sie und ihre Kinder in der Schweiz bleiben können.» Er spricht von einem «sehr, sehr tragischen Fall». Die Klinik selber will aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes keine Auskunft zu F. geben. Antworten findet vielleicht die Baselbieter Staatsanwaltschaft, die den Tod untersucht.

Leben auf der Strasse

Antworten, oder wenigstens Bruchstücke davon, finden sich in der ­Lebensgeschichte von F., in jenem Teil, der in den Akten des Bundesverwaltungsgerichts festgehalten ist, das sich zweimal mit F. befasst hat: Die Frau flieht demnach aus Eritrea, nachdem sie während des Militärdienstes schwanger geworden ist und ihr Mann zeitweise im Gefängnis sass. 2006 erhält sie in Italien eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltsbewilligung. Unterstützung gibt es keine oder kaum. 2007 reist sie weiter nach Schweden, um dort Asyl zu beantragen.

Die schwedischen Behörden schicken sie umgehend unter Berufung auf das Dublin-Abkommen zurück, das besagt, dass ein Asylsuchender im Ersteinreiseland Asyl beantragen muss. Ein Jahr später versucht sie es erneut in Schweden. Wieder scheitert das Unterfangen. In Italien lebt F. mit einem Baby im Arm und einem im Bauch auf der Strasse, hin und wieder von der Caritas unterstützt. Sie wird zum dritten Mal schwanger. Ohne Perspektiven auf eine bessere Zukunft verlässt der Mann und Vater die junge Familie; «aus Verdruss» über die Lage, wie in den Akten nachzulesen ist. Seither ist er abgetaucht.

Das Gericht lehnt den Rekurs gegen den Ausschaffungsentscheid von F. beide Male ab. Zwei Asylrichterinnen, eine mit dem Parteibuch der SVP, die andere mit jenem der SP, stützen den Entscheid des Bundesamts für Migration, das eine Beschwerde und ein Wiedererwägungsgesuch von F. abgelehnt hat.

Das Gericht lässt nicht gelten, dass bei F. eine «mittelgradig depressive Episode» und später eine posttraumatische Störung diagnostiziert wurde. Es argumentiert, in Italien könne die Erkrankung genauso gut behandelt werden. In dem Land also, das massgeblich für die psychischen Probleme der Frau verantwortlich ist.

Schwindelerregende Argumentation

Das Gericht räumt zwar ein, «dass das italienische Fürsorgesystem in der Kritik steht» und dass «eine Betreuung durch die Behörden oder private karitative Organisationen nicht in jedem Fall gewährleistet ist». Es sagt aber auch, F. müsse den «individuellen Nachweis» erbringen, dass ihre Existenz in Italien nicht gesichert ist, «was ihr offensichtlich nicht ­gelungen ist». Eine schwindelerregende Argumentation. Mit fatalen Folgen.

Johan Göttl betreute bei der Anlaufstelle BL, einer vornehmlich durch öffentliche Gelder finanzierten Beratungsstelle, das Dossier von F. Die Anlaufstelle hat Rechtsbeistand geleistet, sie hat den Fall durch alle Instanzen durchgezogen. «Das geschieht nicht oft», sagt Göttl. Doch für ihn ist klar, «dass die Betreuung in Italien nicht funktioniert». Dass es keine adäquaten Behandlungsmöglichkeiten für F. gegeben hätte. Dass «eine psychisch angeschlagene Mutter von drei kleinen Kindern das nicht aushalten kann». Deshalb ging die Anlaufstelle zweimal vor Bundesgericht.

Fehler in der Beurteilung

Göttl sagt, die Verzweiflung von F. sei deutlich sichtbar gewesen: «Sie hat mit Selbstmord gedroht, wann immer es um die Ausschaffung ging. Sie hatte ja auch schon einen Suizidversuch hinter sich.»

Also sagt Göttl: «Die Fehler in der Beurteilung geschahen in erster Linie in Bern und nicht im Baselbiet.» Aber man könne sich fragen, «ob das Baselbieter Amt für Migration nicht auf eine Ausschaffung hätte verzichten müssen». Es habe Anzeichen gegeben, dass die Situation eskalieren würde.

All diese Erkenntnisse erklären nicht, warum sich F. schliesslich selbst tötete. Göttl kennt die letzt­gültige Antwort auch nicht, aber er hat eine gefunden, die er für plausibel hält: «Wir haben der Frau gesagt, sie könne bleiben. Aber es hat dermassen viele Verfahrensschritte zu ihren Ungunsten gegeben.» Am Schluss, ist Göttl überzeugt, hat sie schlicht nichts mehr geglaubt.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 23.11.12

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