Verdingt, verdrängt, verschwiegen

Wie Sklaven wurden Hunderttausende Kinder in der Schweiz in Heimen und auf Bauernhöfen ausgebeutet und misshandelt. Jetzt fordern 10’000 Überlebende Wiedergutmachung.

Trügerische Idylle: Unter so heimeligen Dächern können sich frühere Tatorte der Gewalt gegen Kinder verbergen. (Bild: Niklaus Ramseyer)

Wie Sklaven wurden Hunderttausende Kinder in der Schweiz in Heimen und auf Bauernhöfen ausgebeutet und misshandelt. Jetzt fordern 10’000 Überlebende Wiedergutmachung.

Die Gewalttäter und die Profiteure des tausendfachen Unrechts können sich derzeit meist noch verstecken und der Rechenschaft entziehen. Es sind Tausende in der ganzen Schweiz – Bauern, Vormünder, Pfarrer und Priester. Ihre Opfer hingegen treten jetzt immer mutiger an die Öffentlichkeit. Sie waren Verdingkinder, Heimkinder oder sonst «administrativ Versorgte», wie alleinstehende junge Mütter. Und was sie erzählen, erinnert zum Teil an Horrorfilme. Vergleiche mit der Zwangsarbeit im Dritten Reich oder mit der Sklaverei in den USA werden angestellt.

Das Übel spielte sich mitten in der Schweiz ab. Tausendfach und noch bis weit über die Mitte des letzten Jahrhunderts hinein. Seit Jahren kämpfen über 10’000 Überlebende dieses Unrechts nun schon für Gerechtigkeit. Auch der heute 83-jährige Charles Probst. Er war seiner Mutter als Kleinkind weggenommen worden. Und schon mit acht Jahren musste er von morgens früh bis abends spät auf einem Bauernhof als Verdingbub härteste Arbeit leisten.

Missbraucht und ausgebeutet

Im Sommer durfte er nicht in die Schule: «Da mussten wir chrampfe», erinnert sich Probst. In die Sekundarschule durften auch begabte Verdingkinder sowieso nicht. Lohn gab es keinen. Und jene Verdingkinder, die nur so ausgebeutet wurden, konnten sich oft noch glücklich schätzen: Die meisten dieser Kinder-Arbeiter wurden von ihren «Pflegeeltern» alles andere als gepflegt. Sie verprügelten sie ungestraft. Sie vernachlässigten sie, liessen sie im Winter frieren und das ganze Jahr hindurch hungern.

Es gab sicher auch Bauern und Heimleiter, die anständig und gut zu den kleinen Schutzbefohlenen waren. Aber das waren Ausnahmen. Nebst physischer Gewalt mussten die entrechteten Kinder allzu oft auch psychische Misshandlungen erdulden: War am Sonntagmorgen die Stallarbeit beendet, wurde der erst acht Jahre alte Verdingbub Paul Pfenninger in den Keller gesperrt. Die Bauernfamilie ging in die Kirche und genoss den Sonntag. Erst nachmittags um vier Uhr durfte der «Bueb» wieder ans Tageslicht – und ab in den Stall zum Misten und Melken.

Ein anderer Verdingbub berichtete im Westschweizer Radio, erst mit 16 habe er auf dem Bauernhof im Freiburgischen erfahren, dass eine Magd, die jahrelang im gleichen Haus gearbeitet hatte, seine Mutter war: Sie hatte schriftlich versprechen müssen, dies geheim zu halten. Als er es erfuhr, war sie weg.

Priester und Nonnen als Täter

Was besonders verschwiegen und verdrängt wurde: Verdingte Buben und Mädchen waren auch häufig Opfer ­sexueller Gewalt und Übergriffe. Die feigen Täter nutzten ihre Rechtlosigkeit auch da schamlos aus. Dies geschah vor allem in katholischen Kinderheimen, wo Priester und Nonnen zum Teil ein richtiges Gewaltregime führten. Selbstmorde der verzweifelten Opfer gab es da und auch Totschlag – ohne strafrechtliche Folgen.

Aber auch auf Bauernhöfen kam es zu ungesühnten Straftaten: So war etwa schon die Mutter von Charles Probst auf einem Hof Verdingkind gewesen. Bis sie vom Bauern vergewaltigt und geschwängert wurde. Doch statt dass der Gewalttäter zur Rechenschaft gezogen worden wäre, entfernten die Mitwisser und Mittäter in Kirchen und Gemeindebehörden das Opfer, nahmen ihr das Kind weg – und steckten auch den kleinen Charles in ein Heim, um ihn später zu «verdingen».

Die offizielle Entschuldigung ist «erst ein Anfang».

Der Berner Historiker Marco Leuenberger, der sich eingehend mit diesem systematisch praktizierten und kaschierten Unrecht befasst hat, stellt fest: «Da sind Verbrechen verübt worden!» Pfarrer, Gemeinderäte und Lehrer schauten weg und liessen die Kinder im Elend. Teilweise vernichteten sie die Akten gar böswillig.

Die «verantwortlichen» Behörden tolerierten die systematische Ausbeutung und Misshandlung der Kinder nicht nur. Sie bestahlen und betrogen diese auch selber. Der heute fast 70-jährige Pfenninger etwa kann mit Dokumenten belegen, dass sein Vormund sein Sparheft mit 7100.60 Franken unterschlagen hat. «Vormünder bedienten sich oft schamlos am Vermögen ihrer Mündel», stellt der Historiker Leuenberger fest. Das Thema ­geplünderter Sparbüchlein ziehe sich wie ein roter Faden durch die Erzählungen der Verdingkinder. Das geht bis zu gesamten Erbschaften, die von den Behörden verheimlicht und verprasst wurden. In einem konkreten Fall im Betrag von 160’000 Franken.

Beraubt und betrogen

Paul Pfenninger hat Glück gehabt: Er hat das Geld heute nicht mehr nötig. Und auf seinen Druck hin hat die Gemeinde seines diebischen Vormundes 15’000 Franken an eine gemeinnützige Organisation überwiesen. In einzelnen Kantonen werden ebenfalls Fonds für Härtefälle unter den «Opfern administrativer Zwangsmassnahmen» eingerichtet. Im Unterschied zu Pfenninger sind viele seiner Leidensgenossen nämlich bis heute von bleibenden Schäden gezeichnet – physisch, psychisch und sozial. Und sie leben oft in prekären Verhältnissen.

Bei der noch bis 1981 behördlich ohne Gerichtsentscheid und Rekursmöglichkeit willkürlich weggesperrten jungen Frau hat sich Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf schon 2010 offiziell entschuldigt. Die heutige Justizministerin Simonetta Sommaruga hat eine ähnliche Entschuldigung nun auch an die 10’000 Überlebenden des Verding­kinder-Unrechts gerichtet. Doch für ehemalige Kinder-Sklaven wie Paul Pfenninger oder Charles Probst müssen den Worten Taten folgen. Sie pochen auf Wiedergutmachung – am besten aus dem Milliardenbudget, das der Bund jedes Jahr für die Landwirtschaft bereitstellt. Charles Probst sagt heute: «Mir stehen Reparationszahlungen zu.»

Ein Gesetz gegen Ansprüche

Die Verdingkinder, von denen Hunderttausende im letzten und vorletzten Jahrhundert ohne Lohn bei Schweizer Bauern schuften mussten, waren auch eine wesentliche Stütze der Schweizer Kriegswirtschaft von 1939 bis 1945. In dieser Zeit dürfte die Schweizer Landwirtschaft insgesamt im Umfang von mindestens 20 Milliarden Franken profitiert ­haben. Den noch etwa 10’000 Über­lebenden, die um ihre Kindheit und zum Teil auch um ihre Zukunft betrogen wurden, stünden je mindestens 120’000 Franken zu. Insgesamt etwa 1,2 Milliarden Franken.

Die Ansprüche haben wenig Aussicht, erfüllt zu werden. Das Bundesgesetz über die «Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen», das bald in die Räte kommt, hält ausdrücklich fest: «Aus der Anerkennung des Unrechts nach diesem Gesetz entsteht kein Anspruch auf Schadenersatz, Genugtuung oder sonstige finanzielle Leistungen.» Das Gesetz betrifft vor allem ohne Urteil eingesperrte Frauen, die oft zwangssterilisiert wurden.

Die Opfer dieser Praktiken wurden noch bis vor wenigen Jahren von den Bundesbehörden schroff abgewiesen. Entweder mit der Ausrede, zuständig seien Kantone und Gemeinden, oder gar mit der zynischen Argumentation, dass eine Entschädigung von Zwangssterilisierten entsprechende Forderungen von Heim- und Verdingkindern nach sich ziehen würde. Für die überlebenden Verdingkinder ist die offizielle Entschuldigung von Bundesrätin Simonetta Sommaruga darum wohl «ein wichtiger Durchbruch» – aber dennoch «erst ein Anfang».

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 12.04.13

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