Rund 40’000 Personen demonstrierten am Sonntag in Skopje. Die Forderung der Demonstranten ist deutlich: Premierminister Nikola Gruevski und seine Regierung sollen zurücktreten.
Es gibt zwei Ikonen, die sich in das kollektive Gedächtnis der Demonstranten in Mazedonien eingebrannt haben. Die erste Ikone zeigt die 30-jährige Jasmina Golubovska, die vor dem Regierungsgebäude in Skopje demonstriert. Vor ihr steht ein Polizist in Schutzausrüstung.
Während sie von den Protestierenden nach vorne gedrückt wird, benutzt sie das Schild des Polizisten als Spiegel und zieht sich ihren roten Lippenstift nach. Daraufhin küsst sie das Schild des Polizisten, auf dem sie einen Kussmund hinterlässt. Dem britischen «Guardian» erzählte Jasmina Golubovska: «Mit dem Lippenstift in der Hand habe ich den Polizisten gefragt, ob ich sein Schild als Spiegel benutzen dürfte. Er hat sich nicht bewegt, aber ich habe gesehen, wie er ein bisschen gelächelt hat.»
Die zweite Ikone zeigt Demonstranten, die gemeinsam die albanische und mazedonische Flagge hochhalten. Die Nachricht dieses Bilds lautet: «Wir demonstrieren alle zusammen gegen die Regierung, es gibt keinen ethnischen Konflikt in Mazedonien.»
Die Menschen gehen unabhängig von ihrem ethnischen Hintergrund gegen die Regierung auf die Strasse. Mazedonien ist die Heimat verschiedener Volksgruppen und die mazedonische Regierung scheint sie alle gegen sich aufgebracht zu haben. Neben der albanischen und mazedonischen sieht man auch serbische, türkische, bosniakische und die Flagge der Roma bei den Protesten.
Vereint: Mazedonische und albanische Flaggen ragen über die Köpfe von rund 40’000 Protestierenden. (Bild: OGNEN TEOFILOVSKI)
«Bomben» bringen die Regierung in Bedrängnis
Die Proteste gegen die Regierungskoalition aus der mazedonischen VMRO-DPMNE und der albanischen Partei DUI begannen vor einigen Monaten. Die sozialdemokratische Opposition um den Vorsitzenden Zoran Zaev veröffentlicht seit einigen Monaten auf Pressekonferenzen sogenannte «Bomben». Dabei handelt es sich um aufgezeichnete Gespräche zwischen hohen Regierungsmitgliedern, welche diese ernsthaft in Bedrängnis bringen. Bei den veröffentlichten Gesprächen geht es mitunter um Korruption, Amtsmissbrauch, Wahlbetrug und das illegale Abhören von rund 20’000 Bürgern.
Vor zwei Wochen nahmen die Proteste wieder Fahrt auf, nachdem ein Tonband veröffentlicht wurde, in dem es um den Tod des damals 22-jährigen Martin Neskovski ging. Neskovski wurde im Juni 2011 von einem Polizisten zu Tode geprügelt. Aus den Tonbandaufnahmen geht hervor, dass ein Verfahren gegen den Polizisten von höchster Stelle verhindert wurde.
Das es gerade jetzt zu den grössten Protesten im Land kommt, hängt zudem mit den Kämpfen in Kumanovo vom 9. Mai zusammen. Bei Gefechten zwischen albanischen Separatisten und mazedonischen Polizeikräften starben insgesamt 18 Menschen. 10 auf Seiten der albanischen Separatisten und acht auf Seiten der Polizei. Die Regierung feierte den Einsatz zunächst als Erfolg. Der Regierungssprecher Ivo Koteski sagte: «Eine der gefährlichsten Terrororganisationen auf dem Balkan ist neutralisiert worden.» In der mazedonischen Opposition wird jedoch vermutet, dass es sich um eine Überreaktion der Regierung handelt, um ethnische Konflikte zu schüren und von der Krise abzulenken.
Ivana Jordanovska kommt aus Kumanovo und demonstriert ebenfalls gegen die Regierung. Sie twitterte Live von den Ereignissen in der Stadt und bloggte auf ihrer Website:
«Welche Regierung würde Gewalt verursachen, um an der Macht zu bleiben? Eine Regierung, die nicht viel zu verlieren hat.»
Erste Rücktritte innerhalb der Regierung
Vergangenen Dienstag begann eine erste Rücktrittswelle innerhalb der mazedonischen Regierung: Innenministerin Gordana Jankulovska, Verkehrsminister Mile Janakieski und der Leiter des Geheimdienstes Sasho Mijalkov räumten ihre Posten. Letzterer ist der Cousin des amtierenden Premierminister Nikola Gruevski.
Aus diesen Rücktritten könnte man schliessen, dass die Anti-Terror Aktion in Kumanovo doch kein so grosser Erfolg war. Eine andere Möglichkeit ist, dass es sich um eine Exit-Strategie handelt. Sollte die Regierung tatsächlich zurücktreten müssen und die Rechtsstaatlichkeit nach Mazedonien zurückkehren, dann stehen einigen mazedonischen Politikern Gerichtsprozesse und möglicherweise Gefängnisstrafen bevor.
Oppositionsführer Zoran Zaev lief bei den Protesten vorne mit und forderte in seiner Rede: «Ich fordere im Namen von uns allen: Gruevski, versuche nicht, das hier auszusitzen. Wie du siehst, ist deine Zeit abgelaufen. Verschwinde!» Die Demonstranten fordern konkret die Schaffung einer Übergangsregierung, die freie und faire Wahlen organisieren soll.
«Gruevski, versuche nicht, das hier auszusitzen. Verschwinde!» Oppostitionsführer Zoran Zaev brachte die Forderungen der Demonstraten auf den Punkt. (Bild: OGNEN TEOFILOVSKI)
Russland interpretiert die Proteste als westlichen Putschversuch, die EU hält sich bislang raus
Obwohl die EU der mit Abstand grösste Aussenhandelspartner Mazedoniens ist, bemüht sich Ministerpräsident Nikola Gruevski um gute Beziehungen zu Russland. Er besuchte die Feierlichkeiten zur Befreiung vom Faschismus am 9. Mai in Moskau, bevor er seinen Besuch aufgrund der Anti-Terror Aktion in Kumanovo abbrach.
Die Interpretation der Proteste durch das russische Aussenministerium ist deutlich: «Es handelt sich um eine vom Westen gedeckte farbige Revolution, die mit Mitteln des Strassenkampfes ausgetragen wird. Diese kann die ethnischen Spannungen in Mazedonien und der Region verschlimmern.» Der russische Aussenminister Sergei Lawrow macht die USA und die EU für die Proteste verantwortlich und sagte bei einem Staatsbesuch vergangenen Freitag in Belgrad: «Die Ereignisse in Mazedonien scheinen vor dem Hintergrund zu geschehen, dass die mazedonische Regierung die Sanktionspolitik gegen Russland nicht mittragen will.»
Keine ethnischen Konflikte, sondern die Unzufriedenheit der Bevölkerung
Die Proteste zeugen davon, dass die ethnischen Spannungen, die gleichermassen vom russischen Aussenministerium wie auch vom Grossteil der deutschsprachigen Leitmedien heraufbeschworen werden, so nicht existieren. Zudem scheint «der Westen» sich in den vergangenen Jahren wenig für Mazedonien interessiert zu haben. Zwar ist das Land seit 2005 EU-Beitrittskandidat, doch aufgrund eines Namensstreits mit Griechenland wurden die Verhandlungen zunächst ausgesetzt.
Nach der Machtübernahme durch die VMRO-DPMNE und DUI im Jahr 2006 ging es mit Rechtsstaatlichkeit, bürgerlichen Freiheiten und der Pressefreiheit in Mazedonien steil bergab. Es wurde ein riesiger öffentlicher Sektor geschaffen, indem die Posten nach Parteibuch vergeben werden. Die Konsequenzen dieser Praxis sind die Machtgrundlage der Regierungsparteien.
Während Mazedonien bei der Pressefreiheit noch im Jahr 2007 auf Rang 36, und damit im soliden europäischen Mittel lag, belegt das Land heute Platz 117 und ist das am schlechtesten eingestufte Land des westlichen Balkans. Dennoch konnte sich die EU bislang nicht dazu durchringen, die Regierung zu verurteilen oder sich auf die Seite der Opposition zu stellen. Das Europäische Parlament hat sich bislang lediglich als Gastgeber für Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition angeboten.
Die Demonstranten wollen bleiben, bis die Regierung zurücktritt
Am Sonntagabend bauten Demonstranten vor dem Regierungssitz in Skopje Zelte auf. Sie wollen bleiben bis die die Regierung auf ihre Forderungen eingeht.
Die Demonstranten wollen nicht weichen, bis er weg ist: Premierminister Nikola Gruevski. (Bild: OGNEN TEOFILOVSKI)
Für Montag ist eine Gegendemonstration von Regierungsanhängern geplant. Diese soll vor dem mazedonischen Parlament stattfinden, welches etwa einen Kilometer vom Zeltplatz der Regierungsgegner entfernt ist. Erst dann wird abzuschätzen sein, wie es um die Kräfteverhältnisse in Mazedonien bestimmt ist. Es wird befürchtet, dass es zu Zusammenstössen kommt.