Verschleppt, gefoltert, getötet – Ägypten erschüttert eine Welle von Polizeigewalt

Nach einem weiteren tödlichen Schuss aus einer Polizeiwaffe und landesweiten Protesten der Ärzte gegen Übergriffe der Polizei hat Ägyptens Präsident Sisi neue Gesetze verlangt, um die Wogen des Volkszornes zu glätten. Opfer ist auch ein Italiener: Der Student Giulio Regini hatte in diesem heiklen Umfeld recherchiert.

People gather near to blood stains beside the Cairo Security Directorate in Cairo, Egypt, February 18, 2016. Hundreds of protesters gathered in front of the Cairo security directorate on Thursday night after a policeman shot dead a man in the street, in the latest outburst of anger over alleged police brutality in Egypt.

(Bild: REUTERS/Mohamed Abd El Ghany)

Nach einem weiteren tödlichen Schuss aus einer Polizeiwaffe und landesweiten Protesten der Ärzte gegen Übergriffe der Polizei hat Ägyptens Präsident Sisi neue Gesetze verlangt, um die Wogen des Volkszornes zu glätten. Opfer ist auch ein Italiener: Der Student Giulio Regini hatte in diesem heiklen Umfeld recherchiert.

Ägypten trauert um einen Minibus-Chauffeur. Der junge Mann ist mit einem Kopfschuss niedergestreckt worden – von einem Polizisten. Die beiden hatten sich über den Preis einer Fahrt gestritten. Hunderte aufgebrachte Einwohner der Nachbarschaft versammelten sich in der Folge vor der Polizeidirektion und skandierten Parolen gegen das Innenministerium.

Fast zur selben Zeit hielten Ärzte im ganzen Land Mahnwachen vor den Krankenhäusern. Anlass waren brutale Übergriffe von Polizisten auf Spitalärzte, die nicht juristisch verfolgt wurden. Einem Protestaufruf der Ärztevereinigung zu einem «Tag der Würde» waren über 10’000 Mediziner gefolgt. Er war die grösste Mobilisierung seit Jahren.

Innenminister spricht von Einzelfällen, NGO von 250 Fällen pro Monat

Die Häufung solcher Vorfälle zwang den Präsidenten zu handeln. Solche Übergriffe – namentlich der Foltertod eines Bloggers in der Hand von Polizisten – waren 2011 schon der Anlass für Massenproteste gewesen, die schliesslich das Mubarak-System weggefegt hatten. Sisi zitierte den Innenminister zu sich und verlangte im Laufe von zwei Wochen gesetzliche Änderungen, um die Bürger besser zu schützen. Innenminister Magdy Abdel-Ghaffar musste einräumen, dass das Vertrauen in die Polizeikräfte erschüttert worden sei, aber er bestand auf der oft wiederholten Beteuerung, dass es sich um Einzelfälle handle und 99 Prozent der Polizisten mit niedrigem Rang ehrenhafte Männer seien.

Dieser Einschätzung widersprechen Menschenrechtsorganisationen, die kritisieren, dass sich Sicherheitskräfte nicht an Gesetze gebunden fühlten. Das El Nadeem Center in Kairo, das Opfer von Gewalt und Folter betreut, erhält pro Monat rund 250 Fälle. Regelmässig werden auch Berichte über Folter und Menschenrechtsverletzungen veröffentlicht. Vor wenigen Tagen hat das Gesundheitsministerium nun die Schliessung des Zentrums angeordnet, weil es seine Befugnisse überschreite.

Der Polizeiapparat ist eine tickende Zeitbombe

Nach der Revolution von 2011 hatte sich das Verhältnis von Polizei und Bürger für einen kurzen Moment verbessert. Bald danach nahmen die alten Praktiken wie zu Mubaraks Zeiten wieder überhand, und zwar unter dem Vorwand, Terrorismus zu bekämpfen, Opfer waren aber oft unschuldige Bürger. Die Polizisten hatten nach der Revolution nicht nur eine bessere Bezahlung durchgesetzt, sondern auch die Wiedereinstellung von etwa 10’000 wegen schlechter Führung entlassener Kollegen, und im Oktober 2013 schliesslich wurde ihnen auch das Tragen von Waffen erlaubt.

10’000 Polizisten wurden entlassen und wieder eingestellt, mit der Erlaubnis, Waffen zu tragen.

Ein Kommentator bezeichnete diesen Polizeiapparat jetzt als Zeitbombe. Mit den neuen Bestimmungen soll diese Waffenpraxis überprüft und eingeschränkt und vor allem die Ausbildung verbessert werden. Seit der Revolution 2011 haben sich sechs Innenminister in kurzen Abständen abgewechselt. Grundlegende Reformen der Sicherheitskräfte wurden nicht angegangen, insbesondere wurde das Konzept nicht geändert. Die ägyptischen Sicherheitskräfte sind in erster Linie dazu da, das Regime zu schützen und nicht die Bürger und Bürgerinnen.

Giulio Regini – verschleppt, gefoltert, getötet und entsorgt

Diese verbreitete Polizeibrutalität ist auch der Grund, weshalb die Vermutungen nicht verstummen, Sicherheitskräfte hätten beim Mord an dem jungen italienischen Studenten ihre Hände im Spiel gehabt. Giulio Regini war am 25. Januar in Kairo verschwunden und zehn Tage später ausserhalb der Stadt halbnackt aufgefunden worden.

Die Folterspuren – sagen ägyptische Menschenrechtsaktivisten – seien die Handschrift der Staatssicherheit. Der italienische Innenminister sprach von unmenschlicher und bestialischer Gewalt. Die Regierung in Rom hat diese Woche noch einmal lückenlose Aufklärung verlangt und erklärt, man werde sich nicht mit einer angeblichen Wahrheit abspeisen lassen.



People attend a memorial for Giulio Regeni outside the Italian embassy in Cairo, Egypt, February 6, 2016. Dozens of people gathered at the Italian embassy in Cairo on Saturday to mourn Italian student Giulio Regeni, whose body was found half naked at a roadside with what a senior Egyptian prosecutor has said were cigarette burns and other signs of torture. REUTERS/Mohamed Abd El Ghany

Blumen für Giulio: Symphatisanten legen Blumen nieder für den gefolterten und getöteten Studeten Giulio Regini. (Bild: REUTERS/Mohamed Abd El Ghany)

Das Innenministerium in Kairo hat Berichte ausländischer Medien energisch dementiert, wonach es Hinweise gebe, dass zivile Sicherheitsbeamte Regini, der an einer Doktorarbeit über das heikle Thema der Gewerkschaftsbewegung nach 2011 gearbeitet hatte, abgeführt hätten, weil sie ihn für einen Spion hielten.

Seit Tagen gibt es keine neuen Informationen mehr; und in den ägyptischen Medien melden sich schon die ersten Kommentatoren zu Wort, die Strategien zur Schadensbegrenzung für das schlimmste Szenario aufzeigen und es nicht mehr ganz ausschliessen. Ein prominenter Kolumnist stellte die Frage, wie es sein könne, dass am 25. Januar – dem Revolutionstag – mit einer erdrückenden Polizeipräsenz im Stadtzentrum, ein solch «integriertes» Verbrechen mit Verschleppen, Foltern, Töten und Entsorgen geschehen könne, ohne dass dieser gewaltige Sicherheitsapparat etwas mitbekomme.



Activists hold placards that read, among others,

«Giulio, einer von uns, getötet wie wir»: Die Message der Aktivisten ist klar. Die Spuren an der Leiche von Giulio Regini eigentlich auch – sie weisen auf den Sicherheitsapparat und dessen Foltermethoden hin. (Bild: REUTERS/Mohamed Abd El Ghany)

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