Gewisse Dinge müssen sein, auch wenn sie von beschränktem Nutzen sind. Dazu gehören auch Kriegsverbrecherprozesse.
In jüngster Zeit ist das 1993 geschaffene Haager Tribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) wegen gleich zwei Urteilen in die Schlagzeilen gekommen: Der frühere Serbenführer und Gründer der weiterhin bestehenden «Republika Srpska»» Radovan Karadzic ist am 23. März zu 40 Jahren Haft verurteilt worden. Der rechtsextreme Tschetnik-Führer und Milosevic-Stellvertreter Vojislav Seselj dagegen wurde am 31. März freigesprochen. Beide Male gab es heftige Kritik, im einen Fall, weil der 70-jährige Karadzic nur 40 Jahre auferlegt bekam und nicht lebenslänglich, und im anderen Fall wegen des empörenden Freispruchs.
Diese Urteile können Anlass sein, in etwas grundsätzlicher Weise über Sinn und Unsinn solcher Prozesse nachzudenken. Was leistet das Etablieren von «justice»? Der Sinn ist offensichtlich und – wie bei jedem Strafgericht – ein doppelter: Einerseits geht es um Sühne (Wiederherstellung der Gerechtigkeit) und gar um Vergeltung (ausgleichende Schadensbeifügung). Andererseits geht es um Prävention, das heisst um Abschreckung.
In der Sühnevariante wird vor allem das geltende Recht verteidigt, in der Vergeltungsvariante das erlittene Leid erträglicher gemacht und in der Präventionsvariante entweder durch Strafandrohung oder durch Verurteilung von Dritten eine abschreckende Wirkung angestrebt.
Haben die Urteile eine abschreckende Wirkung?
Ausgehend von der Anklageerhebung und der bekanntlich nicht leicht zu bewerkstelligenden Inhaftnahme hat ein solches Tribunal auch eine pazifizierende, als friedenssichernde Funktion: Kriegstreiber werden aus dem Verkehr genommen. Das ist in den Fällen von Milosevic, Karadzic und Mladic (der im nächsten Jahr sein Urteil erfahren wird) mit grosser Zeitverzögerung gelungen, bei Seselj jedoch nicht.
Das waren und sind im übrigen bloss die Hauptverantwortlichen. Parallel dazu wurden zahlreiche andere Prozesse gegen weniger bekannte Personen geführt, die, weil die direkte Ausführung von Verbrechen nachgewiesen werden konnte, zum Teil auch zu lebenslänglichen Strafen geführt haben.
Während Sühne und Vergeltung jenseits von Nützlichkeitserwägungen sozusagen an sich wichtig sind, stellt sich für die dritte Variante – wie auch in allen nationalen Strafgesetzordnungen – die Frage, ob und wie sehr diese wirklich abschreckend wirken. Zweifel sind da angebracht. Hitler und Stalin, um nur gerade die bekanntesten Verbrecherfiguren zu nennen, hätten sich nicht von Androhungen einer Verurteilung durch ein internationales Tribunal von ihren Untaten abhalten lassen – wenn es ein solches Gericht zu ihrer Zeit bereits gegeben hätte.
Freisgesprochen heisst nicht zwingend «unschuldig»
Hier ist ein kurzer Blick in die etwas tiefer liegende Vergangenheit nötig. Die Westmächte wären schon 1918 geneigt gewesen, den deutschen Kaiser Wilhelm II. als Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen. Zugleich waren sie aber nicht unglücklich, dass die Niederlande, wohin seine kaiserliche Majestät nach der Abdankung ins Exil gegangen war, die Auslieferung verweigerten.
Im Falle des Kaisers hätte der Straftatbestand darin bestanden, dass er einen Aggressionskrieg gegen die Staatenwelt vom Zaune gebrochen habe. Das inzwischen wichtiger gewordene «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» wurde erst mit dem Nürnberger Tribunal von 1945 zu einem strafbaren Delikt.
Es war – juristisch nicht ganz unproblematisch – rückwirkend eingeführt worden. Hinzu kam, dass da «Siegerjustiz» am Werk war. Diesen Vorwurf hörte man auch in späteren Fällen bis hin zu den Urteilen über die serbischen Führer. 1945 hätte es Grund gegeben, wegen der Massenerschiessungen polnischer Offiziere in Katyn auch die Sowjetunion anzuklagen, diese sass aber auf der Bank der Sieger – also der Ankläger.
Ein verlorener Prozess ist schlechter als ein nicht geführter Prozess.
Was ist nach dem Sinn nun auch über den Unsinn solcher Tribunale zu sagen? Eigentlich nur, was zu jedem unbefriedigenden Gerichtsurteil zu sagen ist: Ein verlorener Prozess ist schlechter als ein nicht geführter Prozess. Denn ein Freispruch, das zeigten schon gewisse Nazi-Prozesse, wird gerne als Attest von Unschuld interpretiert, selbst wenn der Schuldspruch bloss wegen mangelnder Beweise ausbleiben musste. Das gilt nun auch für den notorischen Kriegshetzer Seselj, der sich jetzt in seinem Sieg sonnt und einen zweistelligen Millionenbetrag für erlittene Untersuchungshaft fordert und möglicherweise sogar erhalten wird.
Zeugen werden eingeschüchtert
Die beiden Urteile der jüngsten Tage befriedigen nicht. Dem Haager Tribunal wird aber zugute gehalten, dass es noch in den Anfängen stecke und Pionierarbeit zu leisten habe. Eine notorische Schwäche ist, dass es zur Durchsetzung von Haftbefehlen nicht auf eine eigene Polizei zurückgreifen kann. Eine andere ergibt sich aus der Einschüchterung von Zeugen durch die Täterpartei. Den kosovarischen UCK-Kommandanten Ramush Haradinaj musste man laufen lassen, weil eingeschüchterte Zeugen ihre Aussagen revidierten und andere Zeugen (genannt werden 19) unter mysteriösen Umständen ums Leben kamen.
Sonderbar erscheint auch der Freispruch für den kroatischen General Ante Gotovina, der zuvor wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 24 Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Eine Woche nach dem Freispruch im November 2012 wurde er wegen «besonderer Verdienste im Heimatkrieg» zum Ehrenbürger von Split ernannt.
Für die Massenmorde sind stets andere verantwortlich und ethnische Säuberungen hat es keine gegeben, weil alle freiwillig weggezogen sind.
Es wäre eher ungewöhnlich, wenn vormals militante Hetzer plötzlich kleinlaut und Hauptbeschuldigte plötzlich Reue bekunden würden. Karadzic gibt sich selbstverständlich unschuldig. Für die Massenmorde sind stets andere verantwortlich und ethnische Säuberungen hat es keine gegeben, weil alle freiwillig weggezogen sind. In dieser Hinsicht darf man gespannt sein, was General Mladic zum Dauerbeschuss von Sarajevo (1992–1996) und zum Massaker von Srebrenica (1995) und seinen registrierten Funkbefehlen sagen wird. Ein wohlfeiles Argument wird wie auch bei Karadzic sein, dass man Opfer einer Vorverurteilung durch die öffentliche Meinung sei.
Opfer warteten 20 Jahre auf das Urteil
Eine weitere Schwäche solcher Rechtssprüche besteht darin, dass sie spät erfolgen und die abschreckende Wirkung solcher Verfahren darunter leidet. Karadzic konnte nach 1996 zwölf Jahre lang unbehelligt als Wunderheiler unter falschem Namen ein öffentliches Leben führen. Sein Prozess dauerte fünf Jahre, das Urteil ereilte ihn 20 Jahre nach Kriegsende.
Der zum Teil liederlich geführte Prozess gegen Seselj dauerte 13 Jahre. Milosevic wurde zwar 1999 als erstes noch amtierendes Staatsoberhaupt angeklagt und 2001 von Serbien tatsächlich auch ausgeliefert. Verurteilt wurde er aber nie, weil er 2006 vor dem Abschluss des Verfahrens starb.
Im Karadzic-Prozess wurden über 500 Zeugen vernommen. Diese Bestandesaufnahme schafft die Voraussetzung dafür, dass diese Verbrechen nicht dem Vergessen anheim fallen.
Dagegen besteht eine weitere zu würdigende Funktion des Tribunals, das dem Vernehmen nach 2,3 Milliarden Franken Kosten verursacht hat, im sorgfältigen Dokumentieren der begangenen Verbrechen. Öffentliches Vergessen und Gleichgültigkeit empfinden Opfer und deren Nachkommen als zusätzliche Qual.
Die Zahl der für die Urteile zusammengetragenen Dokumente gehen in die Millionen. Im Karadzic-Prozess wurden über 500 Zeugen vernommen. Diese Bestandesaufnahme schafft die Voraussetzung dafür, dass diese Verbrechen nicht dem Vergessen anheim fallen. Diese Dokumentation soll allgemein zugänglich gemacht werden, damit sich diejenigen, die sich dafür interessieren, selber ein Bild machen und ein Urteil bilden können, das nicht ein juristisches sein muss.
Vergessen und in die Zukunkft blicken
Das Hauptziel der Aufarbeitung kriegerischer Konflikte liegt nicht in der richterlichen Arbeit. Diese kann viel mehr eine Voraussetzung für etwas Wichtigeres sein: Die Wiederherstellung einigermassen friedlicher Verhältnisse unter den früheren Konfliktparteien. Versöhnung ist wohl zu viel verlangt, entspräche zum Teil auch einer falschen Erwartung.
Was vor allem nötig ist, hat Churchill in seiner historischen Zürcher Rede von 1946 – bezogen auf den Zweiten Weltkrieg, aber allgemein gültig – gesagt: «Es muss einen segensreichen Akt des Vergessens (‹a blessed act of oblivion›) geben.» Wir alle müssen den Schrecken der Vergangenheit den Rücken kehren. Wir müssen in die Zukunft blicken. Wir können es uns nicht leisten, den Hass und die Rachegefühle, die aus dem Unrecht der Vergangenheit entstanden sind, durch die kommenden Jahre mitzuschleppen. Das ist vor allem die Aufgabe der jeweils nächstfolgenden Generationen.