Verzweifelte Jugend: «Jeder will hier weg, bevor er das nächste Opfer wird»

Die reaktionäre Gegenbewegung nach dem vereitelten Putsch hat die letzte Hoffnung der säkularen und weltoffenen Türken zerschlagen. Die Jugend ist mehr denn je um die Zukunft ihres Landes besorgt.

Nach dem Putsch: Dieser Verkäufer am sonst belebten Kadiköy-Pier, von wo die Schiffe zum europäischen Teil von Istanbul fahren, hat als einer von wenigen seinen Stand geöffnet und wartet auf Kundschaft.

(Bild: Delizia Flaccavento)

Die reaktionäre Gegenbewegung nach dem vereitelten Putsch hat die letzte Hoffnung der säkularen und weltoffenen Türken zerschlagen. Die Jugend ist mehr denn je um die Zukunft ihres Landes besorgt.

Das Leben in Istanbul läuft nur scheinbar wieder halbwegs normal. Es liegt ein Unbehagen in der Luft, eine Art lautlose und dennoch wahrnehmbare Beklemmung, die vorher nicht spürbar war. Nicht einmal nach den Terrorangriffen, von denen die Türkei in den vergangenen Monaten erschüttert wurde. 

Busse und Bahnen waren für ein paar Tage kostenfrei. Wer das Sicherheitspersonal nach dem Warum fragte, bekam zur Antwort: «Nach all dem was passiert ist, ist jetzt ein nationaler Feiertag.» In Festtagsstimmung sind jedoch die wenigsten. Allein die Unterstützer von Erdogans AKP fahren umher, schwenken türkische Flaggen, skandieren «Allahu akbar!» und fordern bei Kundgebungen ihrer Partei die Wiedereinführung der Todesstrafe.

Auch wenn alle Oppositionsparteien den versuchten Militärputsch nachdrücklich verurteilten und auch wenn der Glaube an demokratische Werte im modernen und säkularen Teil der türkischen Gesellschaft einen massgeblichen Anteil an der Vereitelung des Staatsstreichs hatte – die Lorbeeren haben die Islamisten eingeheimst. Sie nutzen die Möglichkeit, die ihnen «ihr» Sieg eröffnet hat, einen nicht sonderlich verdeckten Feldzug gegen alle zu führen, die nicht so denken wie sie, die nicht ihren Lebensstil teilen.

«Was ist gefährlicher? Ein Militärputsch oder die Wut der AKP-Anhänger auf der Strasse?»
Kerem, 39, Fotojournalist 

Das macht denjenigen Türken Angst, die sich sowohl gegen den Militärputsch stellen als auch gegen den zunehmend autokratisch agierenden Erdogan.




Der Kadiköy-Platz, sonst eine der geschäftigsten Ecken im anatolischen Teil von Istanbul, wirkt fast gespenstisch leer. (Bild: Delizia Flaccavento)

Seit Freitag könne er nicht mehr richtig tief Luft holen, sagt Kerem, ein 39-jähriger Fotojournalist. Denn noch immer verfolgen ihn die Gesichter der überwältigten Putsch-Soldaten und ihrer Auspeitscher auf der Bosporus-Brücke. Das Bild jenes jungen Burschen, der von «Jägern der Demokratie» erstochen wurde. «Ich frage mich: Was ist gefährlicher für die Zukunft der Türkei? Ist es ein Militärputsch oder ist es die Wut der AKP-Anhänger auf der Strasse?»

«Wir haben keine Ahnung, wie es weitergeht. Und ich denke, dass wir alle in Gefahr sind.»

Batuhan, 25, Ingenieur 

Batuhan, ein 25-jähriger Ingenieur, möchte sich am liebsten gar nicht mehr mit Politik beschäftigen: «Ich bin es schon seit ein paar Monaten leid, darüber nachzudenken, was in diesem Land passiert, und verfolge die Nachrichten nicht.» Doch der Freitag sei besonders beängstigend gewesen. «Die Strassen wurden blockiert, was in einer Stadt wie Istanbul sehr ungewöhnlich ist. Ich dachte, dass verrückte Menschen uns antun können, was sie wollen. Dass das kein sicheres Land, keine sichere Welt mehr ist. Jetzt haben wir keine Ahnung, wie es weitergeht. Und ich denke, dass wir alle in Gefahr sind.»

Eine Sorge, die auch die 24-jährige Architektin Merve teilt: «In der Freitagnacht hörte ich Schüsse und die Militärflugzeuge über uns hinwegfliegen. Am nächsten Morgen schien alles wieder normal.» Doch es gab immer noch Aufrufe, auf die Strasse zu gehen. Das verursache aber nur noch mehr Chaos, statt die Menschen zu beruhigen, sagt Merve: «Ich bin mehr denn je um die Zukunft der Türkei besorgt.»




Zahlreiche Restaurants bleiben am Tag nach dem vereitelten Putsch geschlossen. (Bild: Delizia Flaccavento)

Die Webdesignerin Nil lebt derzeit in London. «Der Putsch war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, und es war klar, dass er am Schluss Erdogan helfen würde», sagt die 31-Jährige. Das habe die Verzweiflung noch verstärkt, deren Ursache ohnehin weniger die repressive Regierung sei als die Millionen von Menschen, die der modernen Welt gegenüber noch viel feindlicher eingestellt seien.

Eine Rückkehr in die Türkei kann sich Nil jetzt nicht mehr vorstellen: «Ich glaube nicht, dass der gut gebildete, säkulare Teil der Gesellschaft einer strahlenden Zukunft entgegenblickt. Meine einzige Hoffnung ist es, irgendwo in der Welt eine gemeinsame Basis zu finden, die gleichgesinnte Menschen zusammenbringt und ihnen die Möglichkeit gibt, ihre Hoffnungen und Ziele zu verwirklichen.» Nur: «Leider wird das nicht in der Türkei sein.»

Angst und Hoffnungslosigkeit sind zunehmend allgegenwärtig: «Ich habe drei Militärputsche erlebt und viele schreckliche Zeiten, aber ich hatte noch nie so viel Angst wie am Freitagabend», sagt Meral, ein pensionierter Bankangestellter aus Ankara. «Dieses Land ist am Ende, unsere Hoffnungen sind begraben.»

«Der blutige Freitag hat die Büchse der Pandora geöffnet, und ich glaube nicht, dass sich am Büchsenboden Hoffnung findet.»

Ömer, 27, Student 

Mehr als 70 Prozent der türkischen Bevölkerung sind jünger als 30 Jahre – umso gravierender ist es, dass auch die junge Generation die Hoffnung verliert, die sie seit den Gezi-Protesten 2013 hegte. So wie Ömer, ein 27-jähriger Masterstudent: «Der blutige Freitag hat die Büchse der Pandora geöffnet, und ich glaube nicht, dass sich am Büchsenboden Hoffnung findet.»

Ömer verbrachte die ganze Nacht damit, seine Freunde anzurufen, möglichst viele Informationen zu bekommen und zu diskutieren, wie es weitergeht. «Unsere Eltern sind mit Militärputschen vertraut, aber unsere Generation war es bis Freitag nicht. Worum ich mich schon in der Nacht am meisten sorgte war, was danach kommt.» Dann habe er tagelang geweint und tue es immer noch. «Ich bin zu müde, um zu reagieren.»

Der versuchte Putsch habe ihn vollkommen verändert, und er sei nicht der Einzige: «Vorher hatten wir trotz allem Hoffnung, nun ist sie erloschen. Jeder will hier weg, bevor er das nächste Opfer wird, ich auch. Leute warnen einander vor der Hexenverfolgung, die seit Freitag stattfindet. Wir haben Angst, auf die Strasse zu gehen. Wir beäugen unsere Nachbarn aus Angst, dass sie sich als Mörder entpuppen könnten.»

Die Türkei hat bewiesen, dass sie genügend demokratische Reife besitzt, um einem Putsch zu widerstehen. Die Frage ist, ob sie reif genug ist, Toleranz und Pluralismus zu leben.

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