Der Deutsche Bundestag verärgert die Türkei in der Armenien-Frage. Doch warum nimmt er das Risiko trotz Flüchtlingsabkommen auf sich? Eine Übersicht zur verabschiedeten Armenien-Resolution.
Nur wenige Wochen ist es her: Böhmermann, Schmähgedicht, Riesenlärm und dann Bundeskanzlerin Angela Merkel als Buhfrau, weil sie eine Rechtsabklärung zugelassen hatte. Für viele stand fest: ein Kniefall vor dem türkischen Präsidenten Tayyip Erdogan, um den Flüchtlingsdeal nicht zu gefährden.
Auch wenn die Beleidigungen des TV-Satirikers zum Teil sehr tief unter die Gürtellinie gingen, inhaltlich blieben sie im Grunde leer. Georg Kreis schrieb dazu in seinem Essay: «Als Erdogan wäre ich nicht beleidigt, wenn ein Berufsentertainer über die Schnur haut, sondern wenn Merkel mir vorwerfen würde, die Menschenrechte nicht zu respektieren.»
Jetzt hat der Deutsche Bundestag quasi nachgelegt. Ganz ohne Schmäh, dafür klar und deutlich. Mit einer überwältigenden Mehrheit hat der Bundestag die Resolution zu Armenien verabschiedet – und somit den Begriff «Völkermord» für die Geschehnisse vor 100 Jahren festgeschrieben, den die Türkei ablehnt, 20 andere Staaten aber bereits vor Deutschland anerkannt haben. «Zeit Online» hat der Geschichte in all ihren Facetten ein ganzes Dossier gewidmet:
Im Fall Böhmermann ging es noch um die Fragen, was Satire darf und ob Merkel die Meinungsfreiheit nicht zu schützen habe – Flüchtlingsdeal hin oder her. Dieses Abhängigkeitsverhältnis von Deutschland zur Türkei besteht nach wie vor. Dass der Bundestag sich dennoch nicht von der Türkei vorschreiben lassen will, was im eigenen Land als historische Wahrheit zu gelten hat, ist insofern bemerkenswert. Man hatte mit heftigen Reaktionen gerechnet, war aber auch bemüht, diese zu dämpfen und die gute Partnerschaft zu betonen, wie etwa «Spiegel Online» schreibt:
Die Beschwichtigungsversuche nützten nicht viel. Die türkische Regierung zog ihren Botschafter von Berlin nach Ankara zurück. Und auch die türkische Presse reagierte harsch, wie diese Übersicht zeigt:
Deutschland hat lange gewartet, bis es das Risiko auf sich genommen hat, die Türkei in der Armenier-Frage zu verärgern. Es stellt sich daher die Frage: Warum gerade jetzt? Nahost-Redaktor der NZZ, Daniel Steinvorth, schreibt dazu in seinem Kommentar: «Der Wunsch, Präsident Erdogan eins auszuwischen oder auch der Bundesregierung, die seit langem unter Verdacht steht, vor dem türkischen Machthaber zu kuschen, spielte sicher eine Rolle.»
Deutschland glaubt aber offenbar auch, dass es sich den Ärger leisten könne. Dies geht aus dem Interview von «Echo der Zeit» mit Dietmar Nietan (SPD) hervor. Nietan war führend bei der Ausarbeitung der Armenien-Resolution. Er ist überzeugt, dass es sich bei den ersten Reaktionen der Türkei «um Symbolpolitik» handle: Erdogan werde – bei aller Impulsivität, die man von ihm kenne – nicht vergessen, dass die Zahl derjenigen, die mit ihm kooperieren, nicht sehr gross sei. Zudem betont Nietan: «Nicht der Deal macht abhängig, sondern wenn man sich durch ihn erpressen lässt.»
Ob Nietan mit seiner Einschätzung recht behalten wird? Der türkische Premier Binali Yıldırım erwartet jedenfalls keinen nachhaltigen Schaden für die Beziehung zu Deutschland, berichtet «Zeit Online». Allerdings: Im Fall Böhmermann beweist Erdogan, dass er über einen ausgesprochen langen Atem verfügt, wenn es ums Grollen geht.