Auch wenn die SVP das Gegenteil behauptet: Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Strassburger Gerichtshof sind revolutionäre Errungenschaften, von denen auch die Schweiz profitiert.
Wer sich bewusst wird, dass die Schweiz schon 1848 mehr von den Ideen, Werten und Projekten der Französischen Revolution umgesetzt hatte als irgendwer sonst in Europa, der wundert sich, weshalb bis heute der internationale Schutz der Menschenrechte nicht die gleiche Verankerung im kollektiven Unterbewusstsein der Schweizerinnen und Schweizer gefunden hat wie die Demokratie.
«Historische Blindheit» pflegt der grosse französische Rechtsgelehrte und Senator Robert Badinter all jenen vorzuwerfen, die Frankreich als das «Heimatland der Menschenrechte» bezeichnen. Denn sie verwechselten, so Badinter, der als Justizminister der ersten Regierung des Präsidenten Mitterrand 1981 gegen die Meinung der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger Frankreichs die Abschaffung der Todesstrafe durchzusetzen verstand, das Heimatland der «Menschenrechtserklärung» mit der «Heimat der Menschenrechte», was nicht das Gleiche sei.
Zwei Seiten des gleichen Projektes
Damit verweist Badinter auf den Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit, wie er auch in der Schweiz beobachtet werden kann. So verdrängen all jene unter unseren Landsleuten, die immer wieder gerne die Schweiz als «älteste» oder gar «beste» aller Demokratien bezeichnen, wie lange sie sich auf einige Privilegierte beschränkte, wie sehr Napoleon mit seiner Armee nach der Französischen Revolution «nachhelfen» musste; wie viele bis heute von ihr ausgeschlossen werden, wie sehr sie vor den Fabriktoren oder Bürotüren halt macht – der «Arbeiter-Bundesrat» Willi Ritschard (1918–1983) pflegte von der «Sonntagsdemokratie» zu sprechen –, wie schnell sie vielen unter uns zu mühsam wird und wir Einwände und Andersdenkende lieber überhören als ernst nehmen und auf sie eingehen.
Doch eines wurde in der französischen Menschenrechtserklärung von 1789, die, wie Badinter immer erinnert, auf älteren Texten aus England (der «Magna Carta» beispielsweise, die am kommenden 15. Juni ihren 800. Geburtstag feiert) und den USA aufbaute, klar und deutlich gemacht (siehe Text in der Tageswoche vom 5.3.2015): Die Demokratie und die Menschenrechte sind zwei Seiten des gleichen revolutionären Projektes, einer Gesellschaft, die allen Menschen ein Leben in Würde garantiert. Ein Mensch, der sich immer nur dem Willen anderer unterwerfen muss, muss genauso einer würdigen Existenz entsagen wie der Sklave, dem seine Grundfreiheiten vorenthalten werden.
Jede Macht wird durch das Recht begrenzt; auch die Macht der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger hat ihre Grenzen.
In der Menschenrechtserklärung werden die beiden revolutionären Errungenschaften sogar genial miteinander verknüpft: Die Demokratie und die ihr eigene Gewaltenteilung, sprich der Wille der sich selber regierenden Bürger, gewährleistet die Menschenrechte, so wie diese den Willen der Mehrheit begrenzen. Oder wie es in der neuen Bundesverfassung von 1999 formuliert ist: Jede Macht wird durch das Recht begrenzt; auch die Macht der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger hat ihre Grenzen, im Recht und den Rechten, welche die gleichen Bürgerinnen und Bürger in der Bundesverfassung gesetzt haben.
Nach der «Regeneration» der 1830er-Jahre, während der in einigen Kantonen die Volkssouveränität und bürgerliche Rechte wie die Presse-, Versammlungs- und Organisationsfreiheit verankert wurden, sowie vor allem mit der Bundesverfassung von 1848 mit ihren bürgerlichen Grundfreiheiten, dem allgemeinen Männerwahlrecht und dem obligatorischen Verfassungsreferendum, gelang dem aufmüpfigen Teil der Schweizer mit entscheidender Hilfe anderer revolutionärer Europäer die Verwirklichung einer vergleichsweise einzigartigen Anzahl von Ideen aus der Französischen Revolution. Kein anderer Staat in Europa Mitte des 19. Jahrhunderts, auch Frankreich nicht, konnte diesbezüglich mithalten.
Konfliktintensiver Lernprozess
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelang den engagierten Demokraten sogar die Verfeinerung und Erweiterung ihrer von 1848 bis 1874 im Wesentlichen parlamentarischen Demokratie um die Volksrechte (Referendum und Initiative) – in einer Zeit, in der den meisten anderen Europäern sogar das allgemeine Wahlrecht noch immer verwehrt wurde.
Die andere Idee der Französischen Revolution jedoch, die Gleichheit der Menschen, die Idee, dass ihnen allen, unbesehen ihres Geschlechts, ihrer Religion, ihrer Herkunft, ihrer Gesinnung, ihres Status, die gleichen Rechte und Freiheiten zukommen sollten, hatte es freilich auch in der Schweiz schwer. Das dauerte und bedurfte noch jahrzehntelanger mühsamer, konfliktintensiver Lernprozesse, auch des diplomatischen Drucks von aussen.
Jede Bürgerin und jeder Bürger aller 47 Europarats-Mitglieder kann sich an den Strassburger Gerichtshof wenden.
Dabei kamen die Schweizer – glücklicherweise – ohne die ambivalente «Katastrophenhilfe» des 20. Jahrhunderts aus. Die meisten Europäer mussten in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts erfahren, wie wenig Staaten ihre Menschenrechte schützen konnten. Diese schmerzvolle Erfahrung überzeugte die Mehrheit der Kriegsversehrten von der Notwendigkeit der UNO-Menschenrechtserklärung von 1948 und der europarätlichen Europäischen Menschenrechts-Konvention (EMRK) von 1950, zu der auch der Strassburger Gerichtshof gehört. Dieser gewährleistet die Einhaltung der EMRK.
Jede Bürgerin und jeder Bürger aller 47 Europarats-Mitglieder kann sich an den Strassburger Gerichtshof wenden, wenn er oder sie den Eindruck hat, eine staatliche Behörde würde seine oder ihre Menschenrechte verletzen. Eine revolutionäre Errungenschaft im Interesse der Freiheit und zum Schutz der Demokratie eines jeden Menschen in Europa, die auch für die Schweiz ein Segen ist. Gut möglich, dass die neuste Infragestellung von Sinn und Bedeutung der EMRK und des Strassburger Gerichtshofes durch die SVP dazu führt, dass sie in den kommenden Jahren diejenige Verankerung in der schweizerischen Gesellschaft finden, die sie längst verdient hätten.