Volkswahl ist nicht gleich Volkswahl

Vor der SVP haben auch schon andere Parteien die Volkswahl des Bundesrats aufs Tapet gebracht. Die jeweiligen Initiativtexte unterscheiden sich in wesentlichen Punkten.

Das, was die SVP dem Volk vorlegt, unterscheidet sich wesentlich von den früheren Initiativen der Linken. (Bild: Keystone/Peter Schneider)

Vor der SVP haben auch schon andere Parteien die Volkswahl des Bundesrats aufs Tapet gebracht. Die jeweiligen Initiativtexte unterscheiden sich in wesentlichen Punkten.

Der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Diese Einsicht gilt auch für die Initiativen zur Volkswahl des Bundesrats, über die der Schweizer Souverän im Jahr 1900 und im Jahr 1942 abgestimmt hat, sowie für das entsprechende Volksbegehren der SVP, das am 9. Juni zur Abstimmung kommt. Die drei Initiativen unterscheiden sich allerdings nicht nur in Details: In wesentlichen Punkten haben sie eine andere Stossrichtung.

Sieben oder neun?

Die Initiative von 1900, hinter der die Ostschweizer Demokraten, der Grütliverein, der Gewerkschaftsbund und die Sozialdemokraten standen, verlangte neben der Volkswahl auch eine Erhöhung der Zahl der Bundesräte von 7 auf 9. Begründet wurde dies mit den im Laufe der Zeit gewachsenen Aufgaben der Landesväter. Letzteres traf sicher zu. Es ist aber auch nicht von der Hand zu weisen, dass sich die Initianten durch eine Vermehrung der Bundesratssitze bessere Wahlchancen für ihre künftigen Kandidaten erhofften.

Auch die Volkswahl-Initiative von 1942, die von den Sozialdemokraten im Alleingang lanciert worden war, sah eine Erweiterung des Bundesrates auf 9 Mitglieder vor. Davon will die SVP nichts wissen. Gemäss ihrer Initiative hätte das Volk weiterhin 7 Bundesräte zu wählen.

Angemessene Vertretung der «politischen Richtungen»

Die Volkswahl-Initiative von 1942 war von den Sozialdemokraten aus Verärgerung über die permanente Nichtwahl ihrer Kandidaten durch die Vereinigte Bundesversammlung lanciert worden. Dieser Umstand fand seinen Niederschlag auch im Initiativtext. So heisst es darin unter anderem: «Bei der Wahl des Bundesrates sind die politischen Richtungen und die Sprachgebiete der Schweiz angemessen zu berücksichtigen.»

Anders gewichtet die SVP. Sie setzt in ihrer Initiative auf Majorzwahlen. Bei Majorzwahlen gelten vereinfacht gesagt die Personen als gewählt, die die meisten Stimmen auf sich vereinigt haben. Proporzwahlen verlaufen anders. Bei ihnen erhalten die Parteien gemäss ihrem Wähleranteil Sitze zugesprochen.

Ein Antrag, die Bundesratswahlen durch das Volk nach dem Proporz durchzuführen, was am ehesten zu einer «angemessenen» Vertretung der «politischen Richtungen» führen dürfte, scheiterte an der SVP-Delegiertenversammlung vom 3. Oktober 2009 in Genf deutlich. Zu den Gegnern der Bundesrats-Proporzwahlen gehörte auch Christoph Blocher.

Der Entscheid der SVP, den Bundesrat in der Volkswahl nach dem Majorzverfahren wählen zu lassen, ist insofern erstaunlich, als die Partei in den letzten Jahren mit Verweis auf ihren Wähleranteil – also gemäss einer Proporz-Logik – immer wieder einen zweiten Bundesratssitz forderte.

30’000 Unterschriften für einen Wahlvorschlag

In ihrer Initiative von 1942 haben die Sozialdemokraten auch einen heiklen Punkt aufgegriffen, zu dem die zwei anderen Initiativen schweigen. Dabei geht es um die Frage, welche besonderen Bedingungen erfüllt sein müssen, damit jemand Bundesratskandidat wird.

Die entsprechende Bestimmung der Initiative lautet: «Wahlfähig ist jeder in den Nationalrat wählbare Schweizerbürger, der von mindestens 30’000 Stimmberechtigten unterschriftlich zur Wahl vorgeschlagen wird.» Das war damals eine stolze Zahl. Mit ihr sollte eine Flut von Wahllisten und Juxkandidaturen verhindert und den Wählern ein sturmer Kopf erspart werden.

Die SVP hat diese Frage offen gelassen. Es ist dies ein Punkt, zu dem man von Anhängerinnen und Anhängern eines Systemwechsels nicht erst im Nachhinein eine verbindliche Antwort erhalten sollte. Andernfalls kauft man einmal mehr die sprichwörtliche «Katze im Sack» – und reibt sich dann anschliessend die Augen.

Nicht nur in Details problematisch

Die Volkswahl des Bundesrats wirft nicht nur in den Details zahlreiche Fragen auf. Sie ist auch an sich problematisch. Dies nicht zuletzt, weil sie das Parlament deutlich schwächen würde, wodurch es seine Kontroll- und Korrekturfunktion gegenüber dem Bundesrat noch schlechter als bisher wahrnehmen könnte. Dieser Aspekt wird in der aktuellen Diskussion leider weitgehend vernachlässigt.

Problematisch wäre der Systemwechsel bei der Bundesratswahl allerdings noch aus einem weiteren Grund, worauf ein Gegner der Volkswahl in der Baselbieter Zeitung «Der Landschäftler» vom 2. November 1900 hinwies: «Wenn der Bundesrat durch das Volk gewählt wird, verliert er seine Verantwortlichkeit gegenüber der Bundesversammlung (…). Ebenso verliert die Bundesversammlung die Verantwortlichkeit gegenüber dem Volke. Jetzt ist sie moralisch haftbar für die Art und Weise, mit welcher der von ihr gewählte Bundesrat sein Amt ausübt. Sobald das Volk wählt, kann niemand mehr dafür verantwortlich gemacht werden.»

*Martin Stohler schrieb seine Lizentiatsarbeit über die «Doppelinitiative» (Volkswahl des Bundesrats und Proporzwahl des Nationalrats) von 1900 und ist Mitherausgeber des Bandes «Nur scheinbar demokratisch – Volkswahl des Bundesrates: Ein Rückschritt für die Demokratie.» Editions le Doubs, St-Ursanne 2013. 220 Seiten, 19.80 Franken. ISBN 978-2-940455-04-1. edition-le-doubs@bluewin.ch

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