Am 9. Juni entscheiden die Schweizer Stimmberechtigten, ob sie künftig den Bundesrat selber wählen wollen oder die Wahl weiterhin den Eidgenössischen Räten überlassen wollen. Würde die SVP-Initiative für eine Volkswahl angenommen, verlöre das Parlament an Gewicht.
War Ruth Dreifuss eigentlich eine gute Bundesrätin? Das Urteil fällt – je nach politischem Lager, dem man angehört – unterschiedlich aus. Aber sie war eine prägnante, profilierte und geachtete Frau in der Landesregierung. Sie verstand es, umstrittene Geschäfte mehrheitsfähig zu machen, und sie wurde zur «Landesmutter», weil ihre ausgleichende Rolle im Bundesrat offenkundig war.
Sie wäre bei Volkswahlen überwältigend bestätigt worden, aber die Erstwahl, den Einzug in den Bundesrat, hätte sie nie geschafft. Sie war zwar als Gewerkschaftsführerin in politisch interessierten Kreisen bekannt, im Volk aber nicht. Das bürgerlich dominierte Parlament hatte sie als kleineres von vermeintlich grösseren SP-Übelnin ein Amt gewählt, in dem sie ihre schlummernden Fähigkeiten ausspielen konnte.
Nur scheinbar demokratisch
Der Text stammt aus dem Buch «Nur scheinbar demokratisch» Es erscheint demnächst im Buchhandel. Näheres unter: Andreas Gross, Fredi Krebs, Dani Schönmann, Martin Stohler (Hrsg.): Nur scheinbar demokratisch – Volkswahl des Bundesrates: Ein Rückschritt für die Demokratie. Editions le Doubs, St-Ursanne. 220 Seiten, 19.80 Franken. ISBN 978-2-940455-04-1. Bestellungen: eld.bestellungen@gmail.com oder: Editions le Doubs, CP 65, 2882 St-Ursanne
Unter dem Titel «Simulacre de démocratie» erscheint das Buch auch auf Französisch.
Auch ein Kaspar Villiger wäre 1989 in der Volksgunst dem damals schillernderen Franz Steinegger unterlegen gewesen, ein Otto Stich oder eine Micheline Calmy-Rey wären aus unterschiedlichen Gründen in einer Volkswahl gescheitert und Christoph Blocher, der in seinem Kanton Zürich in Persönlichkeitswahlen (Ständerat) stets unterlag, wäre nicht Bundesrat geworden. Gewiss, das alles sind keine wissenschaftlich erhärteten Fakten, aber ziemlich realistische Annahmen.
Man kann davon ausgehen, dass der Bundesrat mit Volkswahlen manchmal anders ausgesehen hätte als die Zusammensetzung, welche die Bundesversammlung bestimmte. Mit anderen Worten: Wahrscheinlich wird – was die Besetzung des Bundesrats betrifft – die direkte Demokratie nicht bis in die letzte Konsequenz ausgeübt. Doch ist das so undemokratisch?
Den Wählern verpflichtet
Würde das Volk den Bundesrat wählen, könnte es dem National- und Ständerat eine stärker legitimierte Regierung gegenüberstellen. Das stimmt. In allen Kantonen und in den meisten anderen Demokratien ist dies der Fall. Dort wählt das Volk die Regierung, die Gesetze vollzieht, Gesetze vorschlägt und die Verwaltung führt; es wählt die Regierung, die Verordnungen erlässt, welche oft viel konkretere Auswirkungen auf den Alltag haben als Gesetze; es wählt die Regierung, welche die Beziehungen zum Ausland regelt, und es wählt die Regierung, die in ausserordentlichen Situationen ohne Rücksicht auf das Parlament mit Notrecht agieren kann.
Wer gewählt wird, fühlt sich seinen Wählerinnen und Wählern gegenüber verpflichtet. Würde der Bundesrat vom Volk gewählt, fühlte er sich den Bürgerinnen und Bürgern in erster Linie verpflichtet – und erst in zweiter Linie dem Parlament. Sich die Volksgunst zu sichern, wäre jedem Mitglied des Bundesrats vordringlicher als sich dem Parlament gegenüber zu verantworten. Das erleben wir tagtäglich in den Kantonen, wo Regierungsräte mit populären, populistischen und peinlichen Reden, Aktionen und manchmal sogar Entscheiden gefallen wollen.
Beobachtet und kontrolliert
Davor sind auch Bundesräte nicht gefeit. Auch ihnen ist die Volksgunst wichtig, auch sie wollen gefallen. Aber sie sind auch ihren Wählerinnen und Wählern verpflichtet, ihrem Wahlkörper, wenn man so sagen will. Und dieser ist das Parlament. Das Parlament, das die Bundesräte, die Regierung kontrolliert, von ihm Rechenschaft verlangt. Das Tun und Handeln des Bundesrats wird von mehr oder weniger professionellen, zumindest semiprofessionellen Abgeordneten recht genau beobachtet und kontrolliert. Die Abhängigkeit vom Parlament ist stärker, als wenn er vom Volk gewählt würde.
Das ist gut so, denn wir brauchen ein starkes Parlament. Es vertritt das Volk und die Kantone, es steht dem Einzelnen näher als die ausführende Regierung. Jede einzelne Bürgerin und jeder Bürger findet eher den Zugang zu einem Volksvertreter, einer Volksvertreterin. Ein Bundesratsmitglied beantwortet ein Anliegen eines Bürgers allenfalls mit einem vorgefertigten Schreiben der Verwaltung. Ein Volksvertreter muss persönlich reagieren, sonst setzt er Wählerstimmen aufs Spiel. Ein National- oder Ständerat kennt die Stimmung im Volk besser als ein Regierungsmitglied. Entsprechend kann er dann, wenn es wieder einmal um die Wahl eines Bundesrats geht, diese Stimmung sehr wohl weitergeben. Und tut es in der Regel auch.
Verzicht aufs Spektakel
Wenn wir den Parlamentarierinnen und Parlamentariern die Kompetenz abgeben, den Bundesrat zu wählen, verzichten wir als Bürger zwar auf die direkte Wahlmöglichkeit der Regierung. Aber wir verzichten nicht auf ein demokratisches Recht. Was uns bei diesem Verzicht abgeht, ist in erster Linie das Gefühl, bei einem Spektakel direkt dabei gewesen zu sein. In allen Kantonen und in den meisten demokratischen Ländern, in denen Regierung und Parlament vom Volk gewählt werden, überschattet das Spektakel der Regierungswahl die Parlamentswahl entschieden.
Da wird das Parlament beiläufig gewählt – und das passt schlecht zu einem konkordanten System, wie wir es in der Schweiz schätzen. In der Schweiz dagegen steht die Wahl des Parlaments im Zentrum. Wir vertrauen ihm, eine glaubwürdige Regierung zu wählen, ohne dass teure PR-Kampagnen nötig sind. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, hat es Regierungen zusammengestellt, in denen Persönlichkeiten wachsen konnten. Und es hat den Volkswillen respektiert, sonst wären eine Ruth Dreifuss nicht gewählt und ein Christoph Blocher nicht abgewählt worden.
Abstimmung vom 9. Juni: Volkswahl des BundesratsBereits zum dritten Mal stimmt das Schweizer Volk darüber ab, ob das Volk den Bundesrat wählen soll. Die ersten beiden Volksinitiativen kamen von links: Beide scheiterten, im Jahr 1900 jene der Grütlianer, 1942 die der SP. Sie erhofften sich, mit der Volkswahl zu einer angemessenen Vertretung im Bundesrat zu kommen. Nach der Abwahl von Christoph Blocher aus dem Bundesrat (2007) lancierte die SVP das Anliegen zum dritten Mal. Diese Woche startete sie ihre Kampagne für die Abstimmung am 9. Juni.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 26.04.13