Es ist kompliziert. So kompliziert, dass sogar die NZZ, die sich nicht vor komplexen Themen scheut, kürzlich schrieb, die Vollgeld-Initiative sei abstrakt, eine Knacknuss: «Der Urnengang vom 10. Juni verlangt den Stimmbürgern einiges ab.» Die Zeitung wollte Hilfe bieten, mit elf Fragen und Antworten als «Denkhilfe» für die Stimmbürgerin.
Ich lese diese elf Fragen und Antworten. Und verstehe, zunächst, nur einen Bruchteil davon. So beantwortet der Wirtschaftsredaktor etwa die Frage «Hätte der Staat die UBS auch im Vollgeld-Regime gerettet?», während ich mich noch mit viel simpleren Fragen herumschlage. Etwa: Was zum Henker ist Buchgeld? Was sind Sichteinlagen?
Dasselbe beim Artikel in der «Aargauer Zeitung» und erst recht beim Initiativtext. Mir fehlen die Grundlagen. Das ist aus zwei Gründen ungünstig. Erstens: Im Juni muss ich darüber abstimmen, und da sollte ich schon einigermassen verstehen, um was es beim Vollgeld geht. Zweitens: Ich habe freiwillig den Job gefasst, für die TaWo einen Artikel über die Initiative zu schreiben. Freiwillig! Jetzt habe ich das Geschenk.
Schritt eins: Lies ein Lehrbuch
Also hole ich mir Hilfe. Zuerst im Lehrbuch «Volkswirtschaftslehre» für die Sekundarstufe II von Aymo Brunetti, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Uni Bern. Dort lese ich nach, wie eine Bank aufgebaut ist, wie Geld entsteht und was eine Bilanz genau ist. Kann ich nur empfehlen.
Ich lerne nämlich Überraschendes, das auch für die Vollgeld-Initiative von Bedeutung ist. Zum Beispiel eben zum Buchgeld. Wussten Sie, dass Banken einfach so, wie von Zauberhand, Geld schaffen können? Das geht, salopp gesagt, so: Wenn ein Unternehmer zur Bank geht, um einen Kredit von 20’000 Franken aufzunehmen, und die Bank zum Schluss kommt, dass seine Geschäftsidee eine lohnende sein könnte, schreibt sie ihm einfach 20’000 Franken gut. Dieses Geld kommt aus dem Nichts, plötzlich steht es schwarz auf weiss auf seinem Kontoauszug. Zack, und schon sind 20’000 Franken mehr im Umlauf.
Das ist dieses Buchgeld, von dem die Initianten sprechen. Es existiert nur auf dem Bildschirm, anfassen kann man es nicht. Davon lebt die Bank. Der Kreditnehmer zahlt der Bank Zinsen für das geliehene Geld, und zwar wesentlich mehr als die Bank denjenigen Leuten zahlt, die ihr Geld bei ihr deponieren. Sie hat also höhere Einnahmen als Ausgaben – das macht ihren Gewinn aus.
Nur zehn Prozent allen Geldes ist Bares
Gemäss den Initianten entsteht 90 Prozent allen Schweizer Geldes als Buchgeld. Die restlichen zehn Prozent sind Bargeld, wie es nur die Nationalbank herstellen darf. Auch dieses Bargeld ist, sofern es nicht in Form von Banknoten in den Umlauf kommt, nur virtuell.
Moment, «was macht schon wieder die Nationalbank?», fragen Sie vielleicht jetzt, lieber Leser. Und wenn Sie das fragen, sind Sie mir sehr sympathisch, weil, wer traut sich schon zuzugeben, so etwas nicht zu wissen? Nun denn: Die Nationalbank ist eine staatliche (aber von den Behörden unabhängige) Institution. Sie sorgt für stabile Preise, um eine zu hohe Inflation zu verhindern. Wir erinnern uns: Inflation haben wir, wenn die Preise dermassen steigen, dass das Geld weniger wert ist. Wir können dann mit demselben Lohn weniger kaufen. Nicht schön.
Zurück zur Nationalbank und dem Bargeld: Bislang stellt also die Nationalbank Bargeld her, Geschäftsbanken wie UBS, Raiffeisen und so weiter produzieren Buchgeld. Das wollen die Initianten ändern. Sie fordern, dass künftig nur noch die Nationalbank Buchgeld herstellen darf.
Wie muss man sich das vorstellen?
«Das System ist auf Schulden gebaut»
Nehmen wir nochmals den Unternehmer, der einen Kredit will. Er kann auch nach allfälliger Annahme der Initiative noch bei seiner Bank um 20’000 Franken bitten. Und es ist dann gemäss Befürwortern immer noch die Bank, die entscheidet, ob seine Geschäftsidee kreditwürdig ist. Aber sie kann die benötigten 20’000 Franken nicht mehr einfach so gutschreiben. Sie muss dafür einen Kredit bei der Notenbank aufnehmen oder bestehende Forderungen gegenüber dieser verringern. Die Notenbank wiederum schafft dann das Buchgeld aus dem Nichts.
Und was ist der Unterschied? Weshalb kommt es darauf an, ob die Raiffeisen- oder die Notenbank das virtuelle Geld herbeizaubert?
Die Initianten fürchten, dass die Geschäftsbanken zu viel solches Buchgeld schaffen, während die Notenbank hier massvoller wäre, da staatlich. «Das jetzige System ist auf Schulden gebaut, die sich immer weiter vermehren. Irgendwann crasht das System», sagte etwa Raffael Wüthrich aus dem Kampagnenteam gegenüber der SRF-«Tagesschau».
Schritt zwei: Frag einen, der sich auskennt – und Nerven hat
Moment, das ist wieder etwas viel auf einmal. Warum soll ein System, das auf Schulden basiert, zusammenfallen? Und wie hängt das mit dem Buchgeld zusammen? Mit diesen Fragen im Kopf fahre ich an die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Uni Basel. Dort erwartet mich Peter Bernholz, emeritierter Professor für Nationalökonomie. Bernholz setzt sich schon seit Jahren mit der Vollgeld-Idee auseinander. Weitere Pluspunkte: Er ist geduldig und spricht langsam.
Herr Bernholz, ich bin keine Ökonomin.
Oh, sind Sie nicht?
Nein. Verzeihen Sie deshalb, wenn ich dumme Fragen stelle. Herr Bernholz, warum crasht ein Finanzsystem, das auf Schulden aufbaut, und wie hängt das mit dem Buchgeld zusammen?
Zuerst einmal müssen Sie wissen, dass Sie kein Geld auf der Bank haben. Sie haben nur Forderungen gegen die Bank.
Aber das Geld auf der Bank gehört doch mir, dafür habe ich viel gearbeitet.
Nein, das Geld, das Sie auf dem Konto haben, ist Eigentum der Bank.
Aber ich kann es abheben und dann gehört es mir.
Ja, wenn es sich um täglich fällige Einlagen handelt, können Sie das machen. Also beispielsweise das Geld auf einem Lohnkonto, mit dem Sie ihre monatlichen Rechnungen zahlen. Das ist ein Konto, von dem man täglich abheben darf. Das ist genau die Gefahr.
Ich bin eine Gefahr für die Bank?
Die Bank behält Ihr Geld ja nicht bei sich, sie verleiht es weiter an Unternehmen. Aber wenn jetzt eine Depression kommt und die Leute in Panik geraten, stürmen Sie und alle anderen vielleicht plötzlich in die Bank und wollen Ihr Geld in bar haben. So wie in den 1930er-Jahren. Oder wie in Griechenland im Jahr 2015.
Und so viel Bargeld kann die Bank auf die Schnelle nicht beschaffen.
Nein, dann wird sie zahlungsunfähig, das heisst, sie hat nicht genug Bares, um ihre Verpflichtungen einzulösen. Dann kann die Bank untergehen und andere Banken mit sich reissen.
Weil die zahlungsunfähige Bank sich Geld bei anderen Banken ausgeliehen hat, das sie denen nicht mehr zurückzahlen kann?
Genau. Banken verschulden sich am Finanzmarkt bei anderen Banken. Wenn jetzt alle Leute eine Bank stürmen, kann die ihre Schulden auch nicht mehr begleichen und reisst andere mit. Wobei man sagen muss: Das ist in der Geschichte nur wenige Male passiert.
Ist dieses Risiko ausgemerzt, wenn die Nationalbank das Buchgeld schafft, wie die Vollgeld-Initiative es fordert?
Ja, dann hätten Sie nicht mehr Forderungen gegen Ihre Bank, sondern gegen die Nationalbank. Und die wird – zumindest in Schweizer Franken – nie zahlungsunfähig, da sie jederzeit neues Geld schöpfen könnte. Eben nicht nur Buchgeld, sondern auch Bargeld.
Moment: Geschäftsbanken wie die UBS, CS und so weiter können ja auch Buchgeld schaffen, warum werden sie dann zahlungsunfähig?
Sie schöpfen Geld, um Kredite zu sprechen. Aber sie können kein Geld schaffen, um eigene Rechnungen zu begleichen und Leute auszuzahlen.
Wenn jetzt zum Beispiel ein Schreiner bei der Geschäftsbank Raiffeisen einen Kredit aufnimmt, um eine Säge zu kaufen, woher kommt das Geld?
Dann muss die Bank das Geld von ihrem Konto bei der Nationalbank «holen», um es dem Sägenhändler zu überweisen.
Also hat die Geschäftsbank bereits heute einen Kredit bei der Nationalbank?
Die Geschäftsbank hat in der Regel ein täglich fälliges Guthaben bei der Nationalbank. Es handelt sich dabei um Reserven. Diese hängen von den Konti ab, welche die Bank verwaltet – je mehr Leute ihr Geld der Raiffeisen bringen, desto mehr Reserven hat die Raiffeisen bei der Nationalbank. Hat sie keine Guthaben bei der Nationalbank, so kann sie sich bei der Nationalbank verschulden und dafür Zinsen zahlen.
Das heisst, eine Bank kann nur Buchgeld schaffen, wenn sie Reserven bei der Nationalbank hat. Ist das keine Garantie dafür, dass die Bank genug Geld hat, um die Kredite auch zu finanzieren?
Eigentlich schon. Aber wenn eben plötzlich alle Leute gleichzeitig ihr Geld abheben wollen, reichen die Reserven nicht. Oder wenn die Bank Kredite gibt und die Kunden nicht mehr zurückzahlen können – dann ist die Bank überschuldet.
Die UBS stand im Jahr 2008 vor dem Kollaps, der Staat rettete sie mit 60 Milliarden Franken. Wäre das mit der Vollgeld-Initiative nicht passiert?
Die UBS war zwar illiquide, aber nicht in dem Sinn, dass das Vollgeld sie hätte heilen können.
Warum nicht?
Die UBS hatte nicht genug flüssige Mittel, um kurzfristige Verpflichtungen zu bezahlen. Aber sie war nicht überschuldet.
Was ist der Unterschied?
Die UBS hatte nur im Augenblick zu wenig Geld, um anfallende Verpflichtungen zu zahlen, etwa Leute zu befriedigen, die ihr Geld abheben wollten. Aber der Wert ihrer langfristigen Forderungen war grösser als die der kurzfristigen Verpflichtungen und der Verpflichtungen insgesamt, sie war also nicht überschuldet.
«Der Staat gab der UBS zwar 60 Milliarden Franken, hinterher kam er aber mit Gewinnen von sechs Milliarden heraus.»
Sie hatte also langfristig genug Kapital, um die kurzfristigen Verpflichtungen zurückzuzahlen. Ist Illiquidität denn kein Problem?
Kurzfristige Illiquidität kann zur Zahlungsunfähigkeit und zum Konkurs führen, wenn keine Hilfe zur Lösung des Problems erfolgt. Wegen der Hilfe durch die Nationalbank konnte das Illiquiditätsproblem der UBS gelöst werden, da diese nicht überschuldet war. Der Staat gab der UBS zwar 60 Milliarden Franken. Aber hinterher kamen Bund und Nationalbank wegen der fehlenden Überschuldung sogar mit Gewinnen von insgesamt sechs Milliarden heraus.
Aber die amerikanische Bank Lehman Brothers ging unter. Liesse sich das mit der Vollgeld-Initiative verhindern?
Nein. Die Vollgeld-Initiative verlangt zwar, dass Banken kein Buchgeld schaffen und keine «täglich fälligen Geldeinlagen» mehr als Kredite weiterverleihen dürfen. Aber sie dürften immer noch Termineinlagen und Sparguthaben an Unternehmen oder andere Banken weiterverleihen – also das Geld, das von Kunden für eine bestimmte Zeit der Bank übergeben wurde, oder das auf Sparkonten oder in Obligationen liegt. Und da kann es ja auch Kunden geben, die zahlungsunfähig werden und die Bank in Schwierigkeiten bringen. Oder es besteht ein Überangebot an Immobilien am Markt und Schuldner können ihre Hypotheken nicht bedienen.
Könnte es also eine ähnliche Finanzkrise wie im Jahr 2007 auch mit Vollgeld geben?
Ja, sicher.
Und wenn man den Banken auch das Leihgeschäft mit den Sparkonti und anderen Termineinlagen entziehen würde?
Ohne Einlagen können Banken keine Kredite verleihen. Und eine wachsende Wirtschaft braucht Kredite – wer soll die dann gewähren? Wenn man den Banken die Spargelder entzieht, kann man gleich das Bankensystem abschaffen. Aber das wäre völlig ineffizient, die Nationalbank könnte eine solche Administration nicht bewältigen.
Gäbe es denn noch genug Kredite für die Unternehmen, falls die Schweiz Vollgeld einführen würde?
Das ist schwer zu sagen. Der Umfang der Kredite würde wohl zunächst abnehmen, aber es hängt natürlich davon ab, wie stark sich die Banken bei der Nationalbank verschulden könnten. Das ist alles nicht einfach abzuschätzen.
Wäre denn die Nationalbank überhaupt in der Lage, alles Buchgeld alleine zu schaffen?
Meiner Ansicht nach ist der heutige Wettbewerb hilfreich, um die lohnenden Investitionen bei den produzierenden Unternehmen zu finanzieren. Nehmen wir mal an, die Notenbank würde eine grosse, umfassende Fehlinvestition tätigen: Das wäre eine Katastrophe. Wenn hingegen eine von hundert Banken falsch investiert, ist das nicht so schlimm. Ausserdem bräuchte die Nationalbank eine riesige Bürokratie, um als einzige Stelle allen Unternehmungen und Privaten lohnende und möglichst sichere Kredite zu gewähren.
Gemäss Initianten wären es nach wie vor die Geschäftsbanken, die den Unternehmen Kredite vergeben.
Da die normalen Banken ja keine Kredite aus täglich fälligen Einlagen mehr geben könnten, würden solche Kredite möglicherweise von der Zentralbank gegeben. Das würde den hohen Bürokratieaufwand für diese herbeiführen.
«Grundsätzlich finde ich die Idee des Vollgeldes keine schlechte. Aber sie kann nie alle Probleme lösen.»
Vollgeld bringt also nicht viel?
Grundsätzlich finde ich die Idee des Vollgeldes keine schlechte. Aber sie kann nie alle Probleme lösen. So, wie die jetzige Initiative formuliert ist, versprechen die Initianten zu viel und verheimlichen die Nachteile der Initiative.
Die wären?
Bislang finanzieren sich die Banken zum Teil aus der Differenz zwischen den Zinsen, die sie für Kredite bekommen, und denen, die sie selbst für die täglich fälligen Einlagen des Publikums zahlen müssen. Fallen diese weg, fehlt den Banken dieser Gewinn. Kommt hinzu, dass die jetzigen Buchgeld-Guthaben der Banken zu Schulden bei der Nationalbank würden. Die Geschäftsbanken müssten dieses Buchgeld innert einer noch zu definierenden Frist aus ihren Bilanzen tilgen, das wäre für sie wie eine Art Steuer.
Wie könnten sich die Banken denn neu finanzieren?
Das ist die Frage. Vielleicht müssen Kontoinhaber wie Sie und ich künftig Gebühren für jede Transaktion bezahlen. Oder die Nationalbank zahlt den Geschäftsbanken ein Entgelt für die Kontoführung.
Die Geschäftsbanken wären dann nur noch eine Art Buchhalter.
So ist es.
Wie stünde die Schweiz im Vergleich zum Ausland da?
Nach der von der Initiative vorgeschlagenen Übergangsfrist könnte es sein, dass das Ausland die Schweiz als noch sichereren Bankenplatz sieht. Das würde eine Überbewertung des Schweizer Frankens tendenziell fördern – und die Exportwirtschaft belasten.