Vom Aufstand des Gewissens

Trotz düsterer Analyse und schonungsloser Kritik an den Nahrungsspekulanten versteht Jean Ziegler sein neues Buch als Plädoyer für die Hoffnung. Das sagt er im Gespräch mit der TagesWoche. Am 3. Dezember liest er in Basel.

«Nahrungsmittel zu verbrennen, um Millionen von Autos am Laufen zu halten, ist ein Verbrechen an der Menschheit.» Jean Ziegler (Bild: Fred Merz/Rezo)

Trotz düsterer Analyse und schonungsloser Kritik an den Nahrungsspekulanten versteht Jean Ziegler sein neues Buch als Plädoyer für die Hoffnung. Das sagt er im Gespräch mit der TagesWoche. Am 3. Dezember liest er in Basel.

Nach Schätzungen der FAO, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, leiden derzeit eine Milliarde Menschen an Hunger. Im Vorwort Ihres neuen Buches «Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten Welt» sagen Sie, der Hunger ist das Werk von Menschen, und Sie fragen, wie erschlagen wir das Ungeheuer? Ihre Antwort?

Ziegler liest in Basel
Jean Ziegler war bis 2008 der erste UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Heute ist er Vizepräsident des beratenden Ausschuss des UNO-Menschenrechtsrat. Unter dem Titel «Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten Welt» (Bertelsmann 2012) hat er sich nun seine Erfahrungen als UN-Sonderberichterstatter von der Seele geschrieben. Ziegler liest am 3. Dezember 2012 in der Basler Buchhandlung Thalia, 20 Uhr.

Jean Ziegler: Hunger ist von Menschen verursacht, die mörderischen Mechanismen und die Verantwortlichen sind identifizierbar. Doch trotz des düsteren Titels ist mein neues Buch ein Buch der Hoffnung, weil der Mensch als Verursacher der Mechanismen des Hungers – Börsenspekulation auf Nahrungsmittel, Agrarpreisdumping Europas in Afrika, Landraub, Biotreibstoffe etc. – diese auch durchbrechen kann. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. Aber die Erde könnte, so sagt die FAO, problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren. Hunger ist also kein Schicksal, sondern eine Frage der Verteilung und des Zugangs zu Nahrungsmitteln. Jedes Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet. 57000 Menschen insgesamt verhungern täglich. Eine Milliarde ist unterernährt.

Welchen Rang nimmt Hunger auf der Skala der Todesursachen ein?

Jedes Jahr sterben weltweit insgesamt 70 Millionen Menschen, ein Prozent der Weltbevölkerung. Davon gehen 18,2 Millionen auf das Konto des Hungers und seiner Folgekrankheiten. Mit anderen Worten: Hunger ist bei weitem die häufigste Todesursache.

Sie konstatieren den Ruin des Welternährungsprogramms und sprechen von der Ohnmacht der FAO.  Warum versagt die internationale Gemeinschaft?

Grund ist die Diktatur der Konzerne. 10 multinationale Konzerne kontrollieren 85 Prozent aller auf der Welt gehandelten Nahrungsmittel. Sie haben eine Macht, die sich jenseits jeder normativen Kontrolle staatlicher und internationaler Organe und Institutionen bewegt. Diese zehn Konzerne entscheiden über die Preisbildung jeden Tag darüber, wer isst und lebt und wer hungert und stirbt. Dabei ist alles völlig legal, aber letztlich mörderisch. Im Dschungel des Raubtierkapitalismus geht es um die kannibalische Weltordnung, nicht um Psychologie.

Ein wesentlicher Grund für die ungleiche Verteilung ist die Spekulation mit Nahrungsmitteln. Zunächst, wie läuft das konkret ab?

Vorbemerkung: Nach der Finanzkrise 2007/8 sind die grossen Banken und Hedgefonds auf die Spekulation an den Rohstoff- und Nahrungsmittelbörsen umgestiegen. Goldman Sachs zum Beispiel offeriert Derivate für Zucker, Soja, Weizen, Reis und Mais. Völlig legal werden der zahlungskräftigen Kundschaft short sellings, Termingeschäfte etcetera angeboten. Das bedeutet: die Grossspekulanten kaufen Warenterminkontrakte auf und verkaufen sie wieder weiter, belehnen sie, verkaufen sie weiter und so weiter. Mit diesen Futures fahren sie astronomische Gewinne ein.

Weitere Konsequenzen ist die Explosion der Weltmarktpreise für Grundnahrungsmittel. Der Preis für eine Tonne Mais ist in diesem Jahr um 63 Prozent gestiegen, für eine Tonne philippinischen Reis von 122 auf 1100 Dollars. Ebenso hat sich der Preis für eine Tonne Weizen innert Jahresfrist verdoppelt. Konsequenz: in den Kanisterstädten der Welt, in den Slums von Karachi, den Favelas von Sao Paolo oder Mexiko-City werden zusätzlich zu den Opfern des täglichen Massakers laut Weltbank 162 Millionen Menschen mehr in Abgrund des Hungers gerissen, weil die Mütter die explodierenden Reispreise nicht mehr bezahlen können.

Gehören Warenterminkontrakte auch in die Sphäre der Spekulation?

Nein. Denn das sind keine Leerverkäufe, sondern traditionelle, wirtschaftlich vernünftige Termingeschäfte. Der Bäcker in New York zum Beispiel will wissen, zu welchem Preis er das Getreide zu einem bestimmten Zeitpunkt einkaufen kann, und der Weizenbauer in Argentinien etwa will wissen, zu welchem Preis er verkaufen kann. Beide brauchen Planungssicherheit und fixieren einen bestimmten Preis, um für den nächsten Produktionszyklus kalkulieren zu können. Diese Art von Termingeschäften zählt seit Jahrhunderten zum Einmaleins des Wirtschaftens, obgleich sie ein spekulatives Element enthalten, das sich im Verlauf der Jahre aber immer wieder ausgleicht. Aber die gegenwärtige Börsenspekulation mit Nahrungsmitteln durch die Hedgefonds hat mit diesem Vorgang nichts zu tun.  

Das letzte Kapitel Ihres neuen Buchs trägt die Überschrift «Die Hoffnung». Was nährt Ihre Hoffnung angesichts der wachsenden Vermögen der weltweit 1210 Milliardäre?

Was mir zur Hoffnung Anlass gibt, ist das Erwachen des Bewusstseins. In der Schweiz haben die Jungsozialisten im Oktober eine Verfassungsinitiative lanciert für einen neuen Artikel 98. Danach ist Nahrungsmittelspekulanten sowie institutionellen Anlegern mit Sitz oder Niederlassung in der Schweiz zu untersagen, weltweit  in Finanzinstrumente wie zum Beispiel Hedgefonds oder strukturierte Finanzinstrumente zu investieren, die sich auf Agrarrohstoffe und Nahrungsmittel beziehen. Das soll für alle gelten, die keine Nahrungsmittelerzeuger oder -verarbeiter sind. Ich unterstütze diese Verfassungsinitiative sehr und hoffe stark, dass sie erfolgreich ist.

Nun wird eine solche Initiative allein die Nahrungsmittelspekulation kaum stoppen können…

Völlig richtig, aber die Initiative steht nicht isoliert da. In Spanien steht seit Mai ein Gesetzentwurf zur Diskussion, der dasselbe will. Ein weiteres ermutigendes Zeichen der Hoffnung sind die Pläne von attac in Deutschland, einen entsprechenden Gesetzentwurf im Bundestag einzubringen. Es ist etwas im Gang.

Sie hoffen demnach auf solche Initiativen?

In der Demokratie gibt es keine Ohnmacht. Wir können jeden dieser mörderischen Mechanismen der Massenvernichtung mit den Mitteln der Demokratie innert kürzester Zeit in die Schranken weisen. Es ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, auf einem Planeten, auf dem alle fünf Sekunden ein Kind verhungert, hunderte Millionen Tonnen Nahrungsmittel als Treibstoff zu verbrennen. Wir können von unseren nationalen Parlamenten verlangen, dass die Gesetze revidiert werden, wir können eine Neuordnung der Zolltarife verlangen, die die Privilegien für den Import von Biotreibstoffen beseitigen, wir können die Entschuldung der ärmsten Länder der Dritten Welt vorantreiben, indem wir andere Volksvertreter als Wolfgang Schäuble oder Eveline Widmer Schlumpf  in die internationalen Gremien delegieren. Wenn sie im nächsten Jahr an die Generalversammlung des Internationalen Währungsfonds gehen, können wir sie zwingen, nicht mehr für die Gläubigerbanken in Zürich, Frankfurt oder London zu stimmen, sondern für die verhungernden Kinder, das heisst für die Totalentschuldung der ärmsten Länder zu votieren.  

Was kann der Einzelne im Kampf gegen den weltweiten Hunger tun?

Drei Dinge, erstens: Wer ein wenig Geld hat, soll es spenden an Organisationen, die humanitäre Soforthilfe leisten wie etwa Caritas oder die Welthungerhilfe. Zweitens: als Verbraucher keine gentechnisch veränderten Nahrungsmittel kaufen, sondern fair gehandelte,  regionale und saisonale Produkte, Drittweltläden unterstützen und so wenig Fleisch wie möglich essen. Die dritte Ebene ist die der demokratischen Mobilisation, um mit den demokratischen Mitteln die genannten Mechanismen der Massenvernichtung zu durchbrechen zum Bespiel mit der Unterstützung von entsprechenden Initiativen. Die schweizerische Bundesverfassung oder auch das deutsche Grundgesetzt gibt den Bürgerinnen und den Bürgern alle demokratisch nötigen Waffen in die Hand. Alles, was es braucht, ist der Aufstand des Gewissens. 

Quellen

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