Vom Nationalhelden zum Landesverräter

Die Franzosen leiden unter einer Rekordsteuerlast und verabscheuen den Fiskus. Wie Schauspiel-Star Gérard Depardieu deshalb aber Frankreich zu verlassen, gilt als höchst unpatriotisch.

Obelix bei den Belgiern: Schauspiel-Star Gérard Depardieu kehrt Frankreich aus Steuergründen den Rücken.

Das Steuerexil von Gérard Depardieu spaltet die Franzosen tief. Sie verabscheuen den Fiskus und leiden unter der Rekordsteuerlast ihres Landes. Doch wegen des Geldes Frankreich zu verlassen, gilt als höchst unpatriotisch.

Verlassen die Reichen das sinkende Schiff? Diese bange Frage stellen sich derzeit viele Franzosen, nachdem ihr «Gégé national» die Türe mit lautem Knall zugeschlagen hat. Wie zahlreiche Grossverdiener vor ihm ist Gérard Depardieu ins belgische Steuerexil ausgewandert. Seinen Pariser Stadtpalast hat er für 50 Millionen Euro zum Verkauf ausgeschrieben. Jetzt teilt er der Regierung in einem offenen Brief mit, er habe genug, immer mehr Steuern zu zahlen. Schliesslich hab er dem französischen Fiskus Zeit seines Lebens 145 Millionen Euro abgeliefert.

Depardieu, der Freund von Sarkozy

Seither wird eine hitzige Debatte in Frankreich geführt. Sie ist zum Teil politisch: Depardieu ist ein Anhänger des früheren Präsidenten Nicolas Sarkozy und klagt implizit über François Hollandes neuen Dreh an der Steuerschraube. Der sozialistische Präsident hat allein für das kommende Jahr Steuererhöhungen von 28 Milliarden Euro vorgenommen. Allerdings hatte die schon die konservative Vorgängerregierung Steuererhöhungen vorgenommen. Zusammen belaufen sie sich für die einfachen Franzosen auf 65 Milliarden Euro.

Das erhöht die Staatsquote aus Steuern, Sozial- und anderen Abgaben auf über 46 Prozent: Rekord für Frankreich und für die EU. Nur so kann die Nation ihr aufwändiges Sozialmodell finanzieren: Die Ausgaben des Staates machen 56 Prozent des Bruttoinlandproduktes aus. Auch dieser Wert wird in keinem anderen EU-Land erreicht.

Frankreich entgingen bereits zwischen 50 und 100 Milliarden Euro

Am stärksten bittet Hollande die Reichen zur Kasse. Millionäre müssen neu 75 Prozent ihrer Einkünfte abliefern. Unter Einhaltung seiner Wahlversprechen erhöht der Präsident auch die Vermögenssteuer, an der Frankreich als eines von wenigen EU-Ländern festhält. Belgien etwa, wo der Filmproduzent und Winzer Depardieu einen eher unansehnlichen Landsitz bezogen hat, taxiert die Vermögen gar nicht und Unternehmensgewinne sowie Erbschaften bedeutend weniger.

Wie viele Steuerflüchtlinge Frankreich verlassen haben, ist unbekannt. 2010 – noch vor den neusten Steuererhöhungen Sarkozys und Hollandes – verliessen 717 Vermögenssteuerpflichtige das Land. Neuere offizielle Zahlen gibt es nicht. Ihr Verlust für Frankreich wird auf 50 bis 100 Milliarden Euro geschätzt.

200 000 Franzosen leben in Belgien

Allein in Belgien wohnen heute 200 000 Franzosen – zumindest während der Hälfte des Jahres: Laut dem bilateralen Steuerabkommen müssen sie dort 180 Tage im Jahr verbringen. Unter ihnen sind viele Firmenbesitzer wie Bernard Arnault, Vorsteher des weltgrössten Luxuskonzerns LVMH. Pariser Spitzenmanager zieht es eher nach London, wo sie tiefere Steuern zahlen. Betuchte Rentner wie Alain Delon, Charles Aznavour oder Alain Prost lassen sich vorzugsweise in der französischsprachigen Schweiz nieder.

Depardieu ist ein grösseres Kaliber. Das lebende Monument des französischen Kinos verkörpert gallische Kultur, Lebensart – und Temperamentausbrüche. Erbost über den Kommentar von Premierminister Jean-Marc Ayrault, sein Exodus sei «erbärmlich», kündigte der Obelix der Republik am Sonntag an, er werde die französische Staatsbürgerschaft niederlegen.

Sarkozy vermittelte Tennisstars an Genfer Privatbanken

Das heizt die nationale Debatte über das liebe Geld und die Liebe zur Nation zusätzlich an. Vertreter der rotgrünen Regierungskoalition meinen verächtlich, Depardieu zeige seine «Dekadenz»; Hollande will in aller Hast das franko-belgische Steuerabkommen neu verhandeln. Die bürgerliche Rechte eilt Depardieu auch nicht zu Hilfe, obwohl Sarkozy in seiner Zeit als Geschäftsanwalt selber französische Tennisstars an Genfer Privatbanken vermittelt hatte – und dies vermutlich weniger legal als Depardieu.

Die Doppelmoral der französischen Politiker

Vom späteren Präsidenten Sarkozy stammt auch der Spruch: «Entweder liebt man Frankreich, oder man verlässt es.» Damit meinte er nicht vermögende Steuerflüchtlinge, sondern gewalttätige Immigrantensöhne aus den Banlieues. Trotzdem zeigte es, welchen Stellenwert die Verbundenheit zur Nation hat: den höchsten.

Zumindest im offiziellen Diskurs. Denn die gleichen Politiker, die mit der Hand auf der Brust die Marseillaise singen und nun über Depardieu den Stab brechen, deponieren ihr Geld im Stillen ebenso gerne in der Schweiz oder in Luxemburg. Wie der Onlineanbieter Mediapart Anfang Dezember mit einem Tonbandmitschnitt belegt, unterhielt sogar der aktuelle Budgetminister Jérôme Cahuzac – zuständig für die Bekämpfung der Steuerflucht – ein undeklariertes Konto bei der UBS. Seltsamerweise leisten ihm auch konservative Politiker Schützenhilfe. Etwa weil sie Angst haben, die aufsässigen Journalisten von Mediapart könnten ihr eigenes Depot bei einer Genfer Bank aufstöbern?

Auf jeden Fall bereiten die meisten Pariser Medien den Mantel des Schweigens über die Cahuzac-Affäre. Denn sie offenbart wie auch der Fall Depardieus die ambivalente Haltung, um nicht zu sagen die Doppelmoral, in der Steuerfrage: Man schimpft in Frankreich zwar öffentlich über das «unpatriotische» Steuerexil der Reichen und Prominenten, tut aber selber alles, um sein eigenes Einkommen vor dem Fiskus zu schützen.

Auch Depardieu deklarierte seine Liebe zu Frankreich in dem gleichen Brief, in dem er seinen Landsleuten mitteilte, er habe genug, 85 Prozent seines Einkommens dem Fiskus in den Rachen zu schieben. Dafür steht er nun in Frankreich am Pranger. Im Privaten haben die Franzosen derweil volles Verständnis für sein Verhalten. Als «Le Figaro» am Montag auf seiner Internetseite fragte, ob sie Depardieus Wut verstünden, antwortete eine Lawine von mehr als 100 000 Online-Lesern. Und 81 Prozent mit Ja.

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