Labour steckt tief im Loch. Die Prognosen sind so schlecht, dass die Umfrageinstitute die Wahlen als eine Gelegenheit sehen, ihren ramponierten Ruf wiederherzustellen. Wie will also die Partei aus der Misere? Unser Korrespondent war beim Klinkenputzen dabei.
«Es schneit», sagt Rashmi Kalubowila erstaunt und blinzelt in den Himmel. Seine Parteikollegin Christine Robson zieht den Kopf ein, um sich vor der bissigen Böe zu schützen, die der Häuserfront entlangfegt. «Da siehst du mal, wie engagiert wir sind – Schnee und Eis hält uns nicht vom Wahlkampf ab», sagt Robson lachend, während sich auf ihrer schwarzen Wollmütze die Flocken festsetzen.
Zusammen mit einem Dutzend anderen Aktivisten sind die zwei an diesem Dienstagabend im Londoner Stadtteil Harrow unterwegs, um die Bevölkerung für die Labour-Partei zu gewinnen. Nach der überraschenden Ankündigung Theresa Mays, am 8. Juni das Parlament neu wählen zu lassen, ist die Wahlkampfmaschine in kürzester Zeit angekurbelt worden und läuft bereits wie geschmiert: Schon zum dritten Mal an diesem Tag stehen Robson und Kalubowila auf der Strasse. So viel Beharrlichkeit wird nötig sein, denn das Loch, aus dem sich die Partei emporarbeiten muss, ist tief.
Als die Premierministerin das Wahldatum bekannt gab, lag Labour in Umfragen rund zwanzig Prozent hinter den Konservativen zurück. Ein besserer Moment, um ihre Position als Premierministerin zu stärken, wird sich kaum mehr bieten – zumal sich am wirtschaftlichen Horizont Wolken zusammenbrauen: Die Schwäche des Pfunds verteuert die Importe, was sich in stagnierenden Realeinkommen niederschlägt, das britische BIP ist im ersten Quartal 2017 um magere 0,3 Prozent gewachsen.
Aber noch ist die drohende wirtschaftliche Abkühlung erst vage zu spüren und so hat die Regierung in Westminster keinen offensichtlichen Grund, sich um den Ausgang der Wahlen zu sorgen. Auch die Umfrageinstitute sind sich einig: Für sie ist das Wahlergebnis «ausgemachte Sache» – sie sehen es sogar als eine Gelegenheit, ihren Ruf wiederherzustellen, nachdem sie sich zuerst bei der Wahl vor zwei Jahren und dann beim Brexit mit ihren falschen Prognosen blamiert hatten. Endlich gibt es eine Abstimmung, bei der sie sich sicher sein können.
Auch nach der Ankündigung der snap election hat sich an dieser Haltung wenig geändert – ungeachtet der Tatsache, dass gerade die innere Zerrissenheit einer der Gründe ist, weshalb Labour in einer so kraftlosen Verfassung in den Wahlkampf zieht. Der Labour-Abgeordnete John Woodcock beispielsweise sagte unverblümt, dass er Corbyn niemals als Premierminister haben wolle. Auch der ehemalige Premier Tony Blair konnte sich nicht dazu durchringen, den derzeitigen Parteivorsitzenden als Regierungschef zu empfehlen.
Corbyn selbst ist derweil furios in den Wahlkampf gestartet. Er versucht, seinen Ruf als Aussenseiter in Westminster als Trumpf zu nutzen: «Ich spiele nicht nach ihren Regeln», sagte er zum Auftakt seiner Kampagne vergangene Woche, und eine Labour-Regierung unter ihm würde auch nicht nach den Regeln spielen. Die Abstimmung sei ein Wettstreit zwischen «dem Establishment und dem Volk». Mit dieser Rolle als linker Herausforderer vermochte er während des Labour-Führungskampfs vor knapp zwei Jahren zu triumphieren, als er mit 60 Prozent der abgegebenen Stimmen zum Vorsitzenden gewählt wurde.
Das britische Wahlvolk für seine Politik zu gewinnen und die miesen Umfragewerte innerhalb von sechs Wochen umzukehren, ist eine ungleich schwierigere Aufgabe. Doch angesichts der Feindseligkeit, gegen die Corbyn in Westminster ankämpfen muss, scheint seine Strategie schlüssig: Er präsentiert sich als Kandidat des Anti-Establishments, der sich gegen den elitären Konsens stellt. Ob er erneut eine Basisbewegung mobilisieren kann, die den Wahlkampf auf die Strasse trägt – wie es etwa Bernie Sanders in den Vereinigten Staaten vermochte – wird sich erst noch zeigen.
Sein politisches Programm ist indes kaum so revolutionär, wie es seine Gegner gern behaupten. Das Wahlmanifest ist zwar noch nicht ausgearbeitet worden, aber Corbyn hat schon einige Vorstösse gewagt: Er will
- den Mindestlohn von derzeit 7.50 Pfund auf 10 Pfund anheben,
- innerhalb von fünf Jahren eine Million Wohnungen bauen,
- den Angestellten des nationalen Gesundheitsdiensts bessere Löhne zahlen und Steuerhinterzieher stärker an die Kandare nehmen.
Zudem hat er versprochen, bei den Brexit-Verhandlungen der Wirtschaft Priorität einzuräumen und den «harten» EU-Ausstieg, den Theresa May anpeilt, über Bord zu werfen – das hiesse zum Beispiel, dass Grossbritannien den Zugang zum Binnenmarkt behält.
Der Brexit birgt jedoch für Labour Gefahren, denn die Partei ist gespalten: Während eine grosse Mehrheit der Labour-Wähler für den Verbleib in der EU gestimmt haben, vertreten viele Abgeorgnete Wahlkreise, in denen die Leave-Wähler dominieren. Entsprechend tut sich die Partei schwer damit, eine klare Linie vorzugeben.
Immerhin haben sich in den vergangenen Wochen die Umrisse eines Plans abgezeichnet: Der Brexit soll nicht verhindert, sondern lediglich so sanft wie möglich umgesetzt werden, also ohne grössere Beschränkung der Einwanderung und ohne Abbruch der Wirtschaftsbeziehungen.
Doch laut Umfragen ist der Brexit eines der Themen, bei dem die Briten mehr Vertrauen in die Konservativen haben als in die Labour-Partei – und mit ihrer harten Haltung scheint Theresa May auch der rechtspopulistischen United Kingdom Independence Party (Ukip) das Wasser abzugraben und deren Wähler auf ihre Seite zu ziehen. Entsprechend will die Labour-Führung die Debatte weg vom Brexit und hin zu innenpolitischen Themen steuern, etwa Gesundheitsversorgung, Service public, Wohnungsnot und Lebensstandards.
Corbyns sozialdemokratischem Programm können sich auch die Aktivisten in Harrow anschliessen. Sie sorgen sich vielmehr, dass sein Image durch die parteiinternen Querelen und die konstanten Attacken der Medien nachhaltig ramponiert worden ist, sodass die Wähler jetzt vorsichtiger geworden sind. Diese Bedenken sind berechtigt.
«Labour scheint mir einfach so zerstritten», sagt ein älterer Mann, der Rashmi Kalubowila die Tür öffnet. Bislang habe er immer Labour gewählt, und trotz seiner Vorbehalte werde er es wohl wieder tun. «Ja, bitte tun Sie das», erwidert Kalubowila, «diese Wahl wird entscheidend sein, es kommt auf jede Stimme an.»