Vorratsdatenspeicherung ist in der EU illegal – hat das Folgen für die Schweiz?

Die höchsten EU-Richter haben das Sammeln von Telefon- und Internetdaten unbescholtener Bürger verboten. In der Schweiz könnte das manchen Politikern «die Augen öffnen», meint Nationalrat Balthasar Glättli. Denn hier sollen Daten länger auf Vorrat gespeichert werden.

Der Staat lauscht mit, das Büpf macht es möglich. (Bild: Michael Birchmeier)

Die höchsten EU-Richter haben das Sammeln von Telefon- und Internetdaten unbescholtener Bürger verboten. In der Schweiz könnte das manchen Politikern «die Augen öffnen», meint Nationalrat Balthasar Glättli. Denn hier sollen Daten länger auf Vorrat gespeichert werden.

Ein Mann läuft mit dem Handy am Ohr durch die Innenstadt, auf der anderen Strassenseite steigen vermummte Einbrecher in eine Boutique ein. Sechs Monate später muss sich der Mann rechtfertigen, was er zu diesem Zeitpunkt an jenem Ort gemacht hat.

Etwa so könnte sich ein Fall ereignen, bei dem die sogenannte Vorratsdatenspeicherung zum Zug kommt. Jedes Telefonat, jeder Zugriff aufs Internet wird von Telekommunikationsfirmen gespeichert und kann gegebenenfalls in einem Gerichtsprozess verwendet werden.

Es geht um die Randdaten: Wann der Computer hochgefahren wurde – oder wo und wann der Sohn dem Mami anrief. Daraus lässt sich bereits vieles herauslesen: Gewohnheiten des täglichen Lebens, soziale Beziehungen oder häufige Aufenthaltsorte. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) meint, man könne daraus «sehr genaue Schlüsse auf das Privatleben von Personen» ziehen und erklärt die geltenden EU-Richtlinien deshalb für ungültig. Das Speichern solcher Daten widerspricht also der EU-Charta, es stelle «einen besonders schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte dar», urteilen die EU-Richter.

Auswirkungen für die Schweiz?

Die Schweiz hat diese Richtlinien nicht unterzeichnet. Das Urteil der EU-Richter hat also keine rechtlichen Konsequenzen für die Schweiz. Trotzdem könnte es einen Einfluss auf die schweizerische Gesetzgebung haben.

Martin Steiger von der Digitalen Gesellschaft  freut sich über das Urteil des EuGH: «Es ist nicht irgendeine Bürgerrechtsbewegung, die gegen Vorratsdatenspeicherung ist, sondern die oberste Rechtsinstanz der EU.» Insofern sei es eine «offizielle Bestätigung», dass die Speicherung der Daten «gegen die Grundrechte verstösst». Für die Schweiz sei das bedeutsam, «da die Argumente in der Schweiz genau gleich gelten».

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Ganz anders sieht das der oberste Staatsanwalt Thomas Hansjakob. Er kennt das Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (Büpf) im Schlaf. Die Rechtslage sei in der Schweiz «völlig anders, als in den meisten EU-Staaten», meint er. Die «Verhältnissmässigkeit» werde bei uns geprüft, anders als in manchen EU-Ländern. Auswirkungen für die Schweiz sieht er keine.

Einer von 1000 Baslern überwacht.

Die Telefonzeiten und Internetzugriffe werden für spätere Ermittlungen verwendet. Dem Bundesrat geht es vorderhand um schwere Verbrechen: Bekämpfung von Kinderpornografie, organisiertem Verbrechen, Terrorismus. Ein Bericht der Digitalen Gesellschaft zeigt, dass die Überwachungsmassnahmen am häufigsten bei Drogenkriminalität und Diebstahl eingesetzt werden. In Basel-Stadt ist einer von 1000 Bürgern von der Überwachung betroffen, in Genf sind es knapp 5 von 1000 (alle Überwachungsmassnahmen eingeschlossen).

Rene Gsell von der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt erklärt, wie die Vorratsdatenspeicherung im Einzelfall funktioniert: «Wenn eine Person für eine Straftat in Frage kommt, können die Ermittler mit den Daten feststellen: Wo war diese Person zum Zeitpunkt der Tat?» Die Staatsanwaltschaft erstellt dann ein sogenanntes Rechtshilfeersuchen beispielsweise an die Swisscom, um gewisse Daten zu einer bestimmten Person zu erhalten. In der Folge muss die Swisscom diese Daten zur Verfügung stellen. «Swisscom hat jeweils keinen Einblick in die überwachten Kommunikationen und weiss nicht, wegen welcher Taten überwacht wird», versichert der Swisscom-Mediensprecher Konrad Merz.

«Bespitzelung auf Vorrat»

Die Daten müssen von den Telekommunikationsfirmen sechs Monate gespeichert werden. Weil die Strafverfolgung aber oft länger dauert, will der Bundesrat die Frist von sechs auf zwölf Monate verlängern. «Oft geht es mehr als sechs Monate, bis die Strafverfolgungsbehörden genügend Anhaltspunkte haben, um diese Daten verlangen zu können», sagte Bundesrätin Simonetta Sommaruga vor einem Jahr. Nun wird im Parlament über die Revision des Büpf entschieden.

Der Ständerat hat das neue Gesetz bereits gutgeheissen – nun fehlt noch die Zustimmung des Nationalrats. Ob das neue Büpf durchkommt, könnte entscheidend vom EuGH-Urteil abhängen. So sieht es zumindest der Grünen-Nationalrat Balthasar Glättli: «Die jetzige öffentliche Debatte wird wohl vielen Politikerinnen und Politikern erst die Augen öffnen, worum es geht.» Nämlich: «Bespitzelung Millionen Unschuldiger auf Vorrat.»

Auch Steiger von der Digitalen Gesellschaft meint, das Gesetz könnte durch einen solchen Umschwung noch kippen. Für ihn ist klar: Wenn der EuGH so entscheidet, wird der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) genauso entscheiden. Ergo wäre eine Klage beim EGMR erfolgsversprechend – und die Schweiz ist diesem Gericht verpflichtet. 

Ein wesentlicher Punkt sei, dass der Nutzen der Daten gar nicht belegt sei, erklärt Steiger: «Es gibt keine Fakten zum Erfolg bei Ermittlungen. Von Staatsanwaltschaft und Polizei werden häufig Anekdoten erzählt, weshalb die Vorratsdatenspeicherung in einem bestimmten Fall zum Erfolg führte. Dabei wäre die erfolgreiche Ermittlung vielleicht auch ohne Vorratsdaten möglich gewesen.»

Staatsanwalt Hansjakob widerspricht: «Jeder Praktiker kann Ihnen bestätigen, dass praktisch jede Randdatenerhebung zu verwertbaren Beweisen oder Ermittlungsansätzen führt.» Ohne diese Daten liessen sich «Drogengeschäfte, aber auch Kinderpornografie im Internet deutlich weniger oft aufklären». Er meint deshalb: «Eine Löschung der Vorratsdaten wäre fatal.»

Folgt der Nationalrat dem Vorschlag des Bundesrates, wäre das Thema sicherlich noch nicht beendet. Die Digitale Gesellschaft hat unabhängig von der Gesetzesrevision gegen den Dienst Überwachung Post- und Fernmeldeverkehr geklagt. Falls die Beschwerde zurückgewiesen wird, will die Digitale Gesellschaft bis an den EGMR weiterziehen. Für weiteren Zündstoff ist also gesorgt.

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