Wahlsieg gibt Erdogan freie Hand

Nach seinem Triumph bei den Kommunalwahlen am Sonntag dominiert der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan mehr denn je die politische Bühne. Der Wahlsieg ebnet ihm den Weg ins Präsidentenamt. Doch zugunsten seiner Partei könnte Erdogan auf eine Kandidatur verzichten.

«Müssen sich warm anziehen»: Der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan drohte seinen Kritikern nach dem Wahlerfolg vom Sonntag. (Bild: Reuters/STRINGER)

Nach seinem Triumph bei den Kommunalwahlen am Sonntag dominiert der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan mehr denn je die politische Bühne. Der Wahlsieg ebnet ihm den Weg ins Präsidentenamt. Doch zugunsten seiner Partei könnte Erdogan auf eine Kandidatur verzichten.

Schuhkartons voller Dollar-Millionen in der Wohnung eines staatlichen Bankers, dicke Bargeld-Bündel und eine Geldzählmaschine im Heim eines Ministersohns: Was während der vergangenen Monate in den Medien für Schlagzeilen sorgte, hat die Anhänger des türkischen Regierungschefs Recep Tayyip Erdogan offenbar nicht irritiert. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Konda erklärten drei von vier Erdogan-Wählern, die Korruptionsvorwürfe hätten «keinen Einfluss» auf ihre Wahlentscheidung gehabt. Jeder Fünfte sagte, die Vorwürfe hätten ihn in seiner Stimmabgabe für Erdogan sogar bestärkt.

Nachdem Erdogans islamisch-konservative Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) bei den Kommunalwahlen am Sonntag mit 45,5 Prozent gegenüber der Wahl von 2009 fast sieben Prozentpunkte zulegen konnte, hat der Premier freie Hand. Der Wahlsieg ebnet ihm den Weg ins höchste Staatsamt. Am 10. August bestimmen die Türken erstmals in direkter Wahl ihren Staatspräsidenten. Er werde der Nation in jedem Amt dienen, das man ihm anvertraue, sagte Erdogan noch am Wahlabend und bekräftigte damit sein Interesse an einer Kandidatur. Noch hat sich der amtierende Präsident Abdullah Gül nicht erklärt. Bewirbt er sich selbst um eine weitere Amtszeit oder macht er für Erdogan Platz?

Putin und Medwedew lassen grüssen

Die beiden Männer sind alte politische Weggefährten. Bei den Massenprotesten vom vergangenen Sommer ging Gül allerdings bereits auf Distanz zu Erdogan. Während der Premier die Demonstranten als «Terroristen» dämonisierte, suchte Gül den Dialog mit der Opposition. Auch zum Verbot der Internetdienste Twitter und YouTube äusserte sich Gül kritisch. Der 64-Jährige ist populär, er hätte durchaus Chancen auf eine Wiederwahl. Nach dem Wahlergebnis vom Sonntag ist es aber unwahrscheinlich, dass er sich Erdogans Wünschen widersetzen wird. Denkbar wäre, dass sich Erdogan zum Präsidenten wählen lässt und Gül sein Nachfolger als Regierungschef wird – Putin und Medwedew lassen grüssen.

Aber nicht allen in der AKP ist wohl bei dem Gedanken an einen Wechsel Erdogans ins Präsidentenamt. Was soll aus der AKP ohne ihr Zugpferd werden? Umfragen zeigen: Für 84 Prozent der AKP-Wähler ist Erdogan der wichtigste Grund für ihre Stimmabgabe. Vielleicht verzichtet Erdogan deshalb vorerst auf das Präsidentenamt und schmiedet sein Eisen, solange es heisst ist: Der Premier könnte die 2015 fälligen Parlamentswahlen auf diesen Herbst vorziehen und so seiner Partei die Macht bis mindestens 2018 sichern. Dann wäre Erdogan mit 64 immer noch nicht zu alt für einen Aufstieg ins Präsidentenamt. Dass Erdogan nach den AKP-Statuten eigentlich nicht ein viertes Mal für ein Parlamentsmandat kandidieren darf, muss kein Hinderungsgrund sein. Diese Regel liesse sich leicht ändern.

Zweite Säuberungswelle

Was immer Erdogans nächste Schachzüge sind, seine Kritiker müssen sich warm anziehen. «Wir werden sie in ihren Höhlen aufspüren, sie werden bezahlen», drohte Erdogan am Wahlabend. Angesprochen fühlen dürfen sich vor allem die Anhänger des islamischen Predigers Fetullah Gülen, die der Premier hinter den Korruptionsenthüllungen vermutet. Gülen selbst ist zwar für Erdogans Rache unerreichbar. Er lebt auf einem Landsitz in Saylorsburg im US-Bundesstaat Pennsylvania. Aber seine Gefolgsleute müssen zittern. Nachdem Erdogan bereits vor der Wahl tausende Gülen-Anhänger aus dem Polizeidienst entfernte und Hunderte Justizbeamte kaltstellte, erwarten Beobachter jetzt eine zweite Säuberungswelle.

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