Warum 45 Studenten den Hüftschwung von Benzema studieren

Computer-Analysen gehören zum modernen Fussball wie der Ball: Deutschland geht nicht erst seit der WM 2014 noch einen Schritt weiter. Der DFB beschäftigt für Bundestrainer Joachim Löw einen riesigen Stab, der jedes Detail über die Gegner analysiert. Nun im Fokus: Frankreich.

Lüftete das Geheimnis von «Team Köln»: Das Elfmeterschiessen im Viertelfinale der WM 2006 hievte die Analyse-Abteilung von Deutschland ins Rampenlicht. (Bild: THOMAS KIENZLE)

Computer-Analysen gehören zum modernen Fussball wie der Ball: Deutschland geht nicht erst seit der WM 2014 noch einen Schritt weiter. Der DFB beschäftigt für Bundestrainer Joachim Löw einen riesigen Stab, der jedes Detail über die Gegner analysiert. Nun im Fokus: Frankreich.

Fast auf den Tag genau acht Jahre ist es nun her, dass eine eigentlich im Verborgenen arbeitende Abteilung des Deutschen Fussball-Bundes für einen Augenblick im Schlaglicht der Öffentlichkeit auftauchte. Damals gewann die Nationalmannschaft ihr WM-Viertelfinale gegen Argentinien nachdem Jens Lehmann zwischen den Schüssen des Elfmeterschiessens immer wieder konzentriert auf einen zerknitterten Zettel geschaut hatte.

Die Informationen auf dem Papier, das später zu einer Art Reliquie des Sommermärchens wurde und für die ein Fan in einer Auktion eine Million Dollar bot, hätten ihm zwar «kaum geholfen», hat Lehmann später einmal erzählt. Aber die Quelle der Hinweise zu den argentinischen Elfmeterschützen war plötzlich berühmt: das «Team Köln» von der Deutschen Sporthochschule.




Auf einem Samtkissen liegt der «Zettel der Nation» von Nationaltorhüter Jens Lehmann aus dem WM Viertelfinale gegen Argentinien. (Bild: JOHANNES EISELE)

 

Seither hat dieses Gruppe, die einst im Zuge der vom ehemaligen Bundestrainer Jürgen Klinsmann angestossenen Reformen entstand, einen feste Platz im Umfeld der Nationalmannschaft. Natürlich auch bei dieser WM. «Wir haben einen täglichen Austausch mit Köln», sagt Stephan Nopp, der die Arbeit der Analysten im fernen Deutschland leitet und die DFB-Elf als einer von drei Scouts durch Brasilien begleitet.

Vier Festangestellte, 45 Studenten, 1 WM-Projekt

Vergleichbar mit 2006 ist die Arbeit in Köln heute aber kaum noch, alles ist aufwändiger und professioneller geworden. Seit eineinhalb Jahren arbeiten Nopp, drei Festangestellte und 45 Studierende nun schon am Projekt WM-Titel.

Über jeden Vorrundengegner und die wahrscheinlichsten Kontrahenten im weiteren Turnierverlauf wurde ein Dossier vom mehreren hundert Seiten Länge erstellt. Dort sind neben den Daten aus klassischen computergestützten Spielanalysen, wie sie auch in der Bundesliga zur Routine gehören, und der Auswahl repräsentativer Spielszenen auf DVD noch jede Menge weitere Daten enthalten.

«Wir sammeln so viele relevante Informationen wie möglich, beispielsweise befassen wir uns damit, wie die Stimmung in der Heimat eines Gegners ist, ob der Trainer unter Druck steht und so weiter. Das ist auch eine Recherchearbeit», sagt Nopp. Vor allem hoffen Löw und sein Chefscout Urs Siegenthaler aber auf präzise Beobachtungen zum Verhalten gegnerischer Mannschaften und Spieler, die vielleicht am Ende entscheidend zu einem Erfolg beitragen können.



Ein vom Softwareanbieter Mastercoach herausgegebener Screenshot zeigt eine Spielanalyse durch das Programm Amiscopro des Fussballspiels Frankreich gegen Deutschland am 12. Nov. 2005 in Paris. Fest installierte Bewegungssensoren im Stadion sammeln waehrend

Und so sieht die Computer-Analyse aus: Ein vom Softwareanbieter Mastercoach herausgegebener Screenshot zeigt eine Spielanalyse durch das Programm Amiscopro des Fussballspiels Frankreich gegen Deutschland am 12. Nov. 2005 in Paris.

Computeranalysen gibt es inzwischen überall, aber die Studierenden, die in der Regel Trainerscheine haben, wurden ein Jahr lang intensiv geschult, um am Ende mit scharfem Auge die vom DFB-Trainerteam erhoffen Details des Spiels lesen zu können. «Wir untersuchen das Verhalten im Angriffsdrittel, die Spielauslösung, das Umschaltspiel oder das Defensivverhalten», erzählt Nopp.

Zuletzt war der nächste Gegner im Fokus: Frankreich

Während des Turniers haben die Studierenden zuletzt die Spiele der Franzosen untersucht, ihnen wurden thematische Schwerpunkte zugeteilt, die gesammelten Beobachtungen werden dann vorgefiltert und nach Brasilien geschickt. «Das ist eine Suche nach Details, nach Mustern in Bewegungsabläufen gegnerischer Spieler zum Beispiel», sagt Nopp.

Vielleicht verrät eine kleine Hüfbewegung von Karim Benzema etwas darüber, auf welcher Seite er den Ball gleich vorbei legen wird, solche Sachen interessiert das Trainerteam. Den deutschen Fussballern werden die interessantesten Erkenntnisse dann in Form von kleinen Videosequenzen vermittelt.

Ecuador's Juan Carlos Paredes (L) fights for the ball with France's Karim Benzema during their 2014 World Cup Group E soccer match at the Maracana stadium in Rio de Janeiro June 25, 2014. REUTERS/Pilar Olivares (BRAZIL  - Tags: SOCCER SPORT WORLD CUP)

Kündigt eine klitzekleine Bewegung einen Trick an von Karim Benzema? Deutschland weiss es. (Bild: PILAR OLIVARES)

Dieses Vorgehen spiegelt einen Trend im boomenden Segment der Spielanalyse, weg von Zahlen und Daten hin zu menschlichen Beobachtungen. Passerfolgsquoten, die von den Computerprogrammen ermittelt werden, sagen nun einmal nichts über den Kontext der Pässe aus, der ist aber von grosser Bedeutung. «Wir wollen wissen, welche Pässe kreativ waren, wer welche Pässe unter Druck spielt, wie viel Raum gewonnen wurde, wie viele Gegenspieler ein Passgeber überspielt hat. Das alles ist mit Computern noch nicht messbar», sagt Nopp.

Der Lohn ist tiefer Einblick und etwas Ehre

Diese Dinge richtig zu erkennen, ist kompliziert. Um Missverständnissen vorzubeugen sind der Basler Urs Siegenthaler, einst Ausbildner von Löw und früher FCB-Spieler wie Trainer, sowie Löws Assistenztrainer Hansi Flick immer wieder in Köln gewesen und haben die Studierenden intensiv geschult. «Vertrauen ist ein ganz zentraler Begriff bei diesen qualitativen Analyseverfahren», meint Nopp, «Urs Siegenthaler sagt immer: Wir müssen mit einer einheitlichen Sprache sprechen, es muss immer klar sein, welche Formulierung was genau bedeutet.»

Jetzt, wo die WM läuft sind manchmal sogar Nachtschichten erforderlich, damit Löw bestenfalls unmittelbar nach dem Abpfiff der eigenen Partie frische Informationen über den kommenden Gegner erhält. Vermutlich betreiben die Deutschen die akribischste Gegnervorbereitung aller grossen Fussballnationen, und die Studierenden, machen das alles ohne für ihre Arbeit bezahlt zu werden.

Als Lohn erhalten sie alleine das Privileg, Dinge über die Spielphilosophie der Nationalmannschaft zu erfahren, die dem Rest des Fussballvolkes nicht zugänglich sind. Und natürlich das Gefühl, dass sie sich ein klein wenig mitverantwortlich fühlen dürfen für die erhofften Erfolge.

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Mehr zum Thema in unserem Dossier: WM 2014

 

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