Warum die ganze Aufregung?

Nach der medial überhitzten Moraldebatte über Günter Grass und Israels Atombombe stellen sich weitere Fragen – etwa: Was qualifiziert Schriftsteller, Vordenker in Fragen zu sein, die eigentlich andere zu beantworten hätten?

Günter Grass provoziert mit Israel-kritischem Gedicht. (Bild: JENS MEYER)

Nach der medial überhitzten Moraldebatte über Günter Grass und Israels Atombombe stellen sich weitere Fragen – etwa: Was qualifiziert Schriftsteller, Vordenker in Fragen zu sein, die eigentlich andere zu beantworten hätten?

Inzwischen ist die Wortmeldung bereits in aller Munde gewesen: Günter Grass hat am 4. April 2012 in der «Süddeutschen Zeitung» ein «kurzes» Gedicht (2600 Zeichen mit Leerschlägen und halb so lang wie dieser Text) veröffentlicht und darin die Befürchtung geäussert, dass Israel – später korrigiert auf «die aktuelle israelische Regierung» – zu einem Erstschlag gegen den Iran ausholen und dabei den Weltfrieden gefährden und nichts weniger als das iranische Volk auslöschen könnte.

Grass wünschte sich, dass man die Atomproblematik ernster nehme, als man sie bisher genommen hat. Gewiss können wir sie nicht ernst genug nehmen. Man hat es aber vorgezogen, sich vor allem darüber auszulassen, ob Grass das überhaupt sagen durfte. Und man debattierte, ob er das Gesagte auf angemessene Weise gesagt oder ob er sich dabei einige signifikante Unge­nauigkeiten geleistet habe, die seinem Anliegen und ihm selbst gar nicht gutgetan hätten – angefangen mit der Gleichsetzung von Verteidigungsmassnahmen auf der einen mit Aggressionsabsichten auf der anderen Seite.

Der Mechanismus der Medien

Auch wenn uns das von Grass’ ursprünglichen Absichten noch weiter entfernt, sei nach der gewaltigen Diskussion für einen Moment der Frage nachgegangen: Warum die ganze Aufregung? Diese Frage ruft nach weiteren Fragen: Weil es um Israel geht? Weil es um den Atomtod geht? Hätte nicht vielmehr die rechtswidrige Siedlungspolitik thematisiert werden müssen, obwohl sie mit ihrer Alltäglichkeit weit weniger spektakulär ist und die Palästinenser nicht mit A-Rüstung drohen können? Weil es ein Deutscher war, der «es» gewagt hat? Weil es Grass war? Weil der Zeitpunkt (vor Ostern) gut oder schlecht war? Oder weil die Medien heutzutage derart übertrieben auf alles reagieren, weil jeder am schnellen Geschäft mit der kurzen Leseraufmerksamkeit teilhaben muss?

Es war von allem dabei. Eine andere, auch für Grass’ eigene Bilanz wichtige Frage ist: Was hat die Wortmeldung, die nach der Meinung des Dichters wegen der vorherrschenden Tabuisierung offenbar «gesagt sein» musste, überhaupt gebracht?
Die Einschätzungen der Wirkung sind sonderbar widersprüchlich: Die ­einen meinen, dass die Intervention einhellig gutgeheissen, die anderen sind überzeugt, dass sie durchs Band abgelehnt worden sei. Uns fehlt für einmal die kleine mediale Schnellumfrage mit ihren bunten Kuchendiagrammen, die das Ja und Nein visuell näher­bringen.
Ist wenigstens ein Teil der beschworenen Gefahr gebannt? Oder ist die Frage nach der Wirkung eine, die man so nicht stellen kann, weil man nämlich zum Schluss kommen könnte, dass – unter diesem Aspekt – das meiste gar nicht gesagt und geschrieben werden müsste? Auch diese Zeilen nicht. Oder war die ganze Wortmeldung, wie man sagt, kontraproduktiv? Hat die gegenwärtige Regierung, die ihm verständlicherweise ein spezieller Dorn im Auge ist, nicht von Grass’ sonderbarer «mit letzter Tinte» niedergeschriebener Wortmeldung nur profitiert? Der Vorschlag des Lübecker Altpoeten: Beide Mächte, die bereits reale Atommacht Israel und die potenzielle Atommacht Iran, sollen unter internationale Aufsicht gestellt werden.
Da der Vorschlag nicht sehr originell ist, sollte, wenn man vom besonderen Status des Nobelpreisträgers von 1999 absieht, wenigstens das Gedicht es sein.

Ein Dichter macht sich Sorgen

Ist es aber nicht, auch wenn sich Grass in seiner Rechtfer­tigung sogar auf Walther von der ­Vogelweide († um 1230) beruft. Es ist, wiederum nach den Worten des Autors, «rhythmisierte Prosa» – was aber auf jede Prosa zutrifft. Lyrik ist die literarische Gattung, in der das «Ich» mit seinen unmittelbaren Gefühlen im Zentrum steht. In diesem Punkt wenigstens stimmt der Auftritt: Grass hat sich, wenn auch etwas einseitig, einfach Sorgen über die Welt gemacht.

Oder muss man gar zum Schluss kommen, dass Grass einfach seinen Beruf wahrnehmen wollte? Ganz am Rand, neben Israel, deutscher Vergangenheit und Atomtod, wirft der aktuelle Fall von Aufgeregtheit einmal mehr die Frage nach der Rolle der Dichter und Denker auf. Wir brauchen sie, und sie wollen von uns gebraucht werden im Anstossen von Debatten, im Aufrütteln aus dem Alltag.
Die Debatte hat tatsächlich stattgefunden. Andere Grössen haben sich daran beteiligt. Auch schweizerische: Die Namen von Muschg, Merz, Bärfuss und Lewinsky mit ihren Kommentaren sind zitiert worden. Es fragt sich nur, was Schriftsteller speziell qualifiziert, Vordenker in Sachfragen zu sein, die ansonsten anderen Experten überlassen werden – ob es sich nun um Weltfrieden, Entwicklungshilfe, Klimakatastrophe oder Kinderpornografie handelt.
Es ist die wichtige Querschnittdimen­sion der Moral. Indem der Autor des «Gedichts» ganz auf die Gewissensfrage gesetzt hat («Was gesagt werden muss»), machte er einen zu grossen Bogen um anderes, das zur angesprochenen Pro­blemlage auch hätte gesagt werden sollen. tageswoche.ch/+axpsr

 

* Der Historiker Georg Kreis war bis Ende 2011 Präsident der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus.

Günter Grass: Der Autor schrieb, die Atommacht Israel bedrohe den Frieden und könnte den Iran auslöschen – er löste damit eine riesige Empörungswelle aus. Foto: Keystone

Die Gesellschaft braucht Dichter und Denker, die aufrütteln.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 13.04.12

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