Erdogan kämpft an vielen Fronten: Mit dem Einmarsch in Syrien riskiert der türkische Staatschef nun allerdings eine weitere Eskalation im türkischen Kurdenkonflikt. Sein Land stürzt er dadurch noch viel tiefer ins Chaos. Ein Erklärstück von unserem Korrespondenten.
Die Türkei kommt nicht zur Ruhe. Der Autobombenanschlag in der kurdischen Stadt Cizre ist ein weiteres Glied in der Kette nicht enden wollender Gewalt. Mit der Invasion der türkischen Armee in Syrien führt Präsident Recep Tayyip Erdogan die Türkei noch tiefer in den Treibsand des syrischen Bürgerkrieges.
Der Vorstoss der türkischen Streitkräfte über die syrische Grenze könnte nicht nur weitere Terroranschläge des «Islamischen Staats» provozieren. Die Invasion facht auch den Kurdenkonflikt im eigenen Land weiter an. Denn sie richtet sich nur vordergründig gegen den IS. Der hatte sich ohnehin schon vor Beginn des türkischen Vorstosses aus Dscharablus ins Hinterland zurückgezogen.
Die von der Türkei unterstützten syrischen Rebellen hatten deshalb leichtes Spiel und konnten die zuvor vom IS besetzt gehaltene Stadt innerhalb weniger Stunden einnehmen. Für die Dschihadisten ist das ein schwerer Verlust, denn das nur einen Kilometer südlich der türkischen Grenze gelegene Dscharablus war die wichtigste Drehscheibe des IS für Nachschublieferungen und die Einschleusung rekrutierter Kämpfer aus der Türkei.
Das Ziel ist nicht der IS
Doch der Türkei geht es weniger um den IS. Sie will vor allem die syrische Kurdenmiliz YPG aus der Grenzregion westlich des Euphrat vertreiben. Schon am zweiten Tag der Offensive nahmen türkische Panzer und Kampfflugzeuge deshalb kurdische Verbände unter Beschuss. Östlich des Euphrat kontrollieren die Milizen der YPG und ihre politische Dachorganisation, die kurdische Partei der Demokratischen Union PYD, bereits einen rund 400 Kilometer langen und bis zu 50 Kilometer breiten Streifen. In diesem Gebiet, das bis zur irakischen Grenze reicht, hat die PYD eine Art Selbstverwaltung etablieren können.
Eine weitere Hochburg der syrischen Kurden ist die an die Türkei grenzende Region nordwestlich von Aleppo, das die Kurden als Kanton Afrin bezeichnen. Das Gebiet zwischen Afrin und dem Westufer des Euphrat war bisher unter Kontrolle des IS.
Ankaras Alptraum: Gelänge es den Kurdenmilizen, die Dschihadisten auch aus dieser Region zu vertreiben, würde die PYD die syrische Seite der Grenze auf ganzer Länge kontrollieren. Daraus könnte später ein Kurdenstaat entstehen, der von Nordsyrien über den Nordirak bis zu den kurdischen Siedlungsgebieten im Iran reicht. Die Autonomiebestrebungen der türkischen Kurden würden dadurch angefacht. Dass die PYD der syrische Ableger der türkischen PKK ist, macht die Entwicklung aus der Sicht Ankaras noch alarmierender.
Das Dilemma der USA
Mit der Invasion in Nordsyrien versucht Erdogan gegenzusteuern. Das kann die Türkei aber nur, wenn sie eine dauerhafte Militärpräsenz westlich des Euphrat schafft. Damit wird das syrische Puzzle noch komplizierter. Vor allem die USA kommen in ein Dilemma.
Mit Rücksicht auf den Nato-Partner Türkei erklärte Vizepräsident Joe Biden am Mittwoch in Ankara den Autonomiebestrebungen der syrischen Kurden zwar offiziell eine Absage. Zugleich brauchen die USA aber die Kurdenmilizen. Sie sind die einzigen, die bisher am Boden dem IS Paroli bieten können. Washington kann daher nicht daran gelegen sein, wenn die YPG nun im Kampf mit den türkischen Invasionstruppen aufgerieben wird.
Erdogan hat zwar bisher die Rückendeckung der Amerikaner für seine Syrien-Invasion. Er muss freilich fürchten, dass sich der IS und die Kurden mit weiteren Terroranschlägen rächen werden. Die Kanonen der türkischen Panzer richten sich auf Syrien. Aber die Türkei könnte jetzt zum eigentlichen Schlachtfeld werden.