Wie soll die Weltgemeinschaft auf die Provokationen Nordkoreas reagieren? Dazu stapeln sich die Kommentare: China soll, die USA sollen nicht, Russland muss, Südkorea darf, die EU könnte – und die Schweiz möchte. Solche Überlegungen sind nötig und wichtig. Und wichtig ist dabei, dass man sich vor Augen führt, was Nordkorea ist und was es in den letzten Jahrzehnten geworden ist.
Nordkorea ist ein Relikt des Kalten Kriegs. Nach dem Zusammenbruch der japanischen Besatzungsherrschaft 1945 geriet der Norden der koreanischen Halbinsel in die sowjetische, der Süden in die amerikanische Einflusszone. Wie in Vietnam war anfänglich die Schaffung eines ungeteilten Landes unter einem aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Regimes vorgesehen.
Doch die beiden Schutzmächte, die sich in erster Linie von ihren strategischen Interessen leiten liessen, sorgten dafür, dass sich die Teilung Koreas verfestigte. Die strategischen Interessen bestanden auf der sowjetischen Seite darin, eine Basis gegen den alten Feind Japan zu haben. Auf amerikanischer Seite ging es darum, sich der Expansion der Sowjetunion wie in Osteuropa und Zentralasien auch im Fernen Osten entgegenzustellen.
Ein gespaltener Nationalismus
Wahlen kamen im Mai 1948 nur im Süden zustande, im August 1948 folgte auf dieser Seite die Ausrufung eines Staates, der Anspruch auf das ganze Land erhob. Im Norden entstand im folgenden Monat die Demokratische Volksrepublik Korea mit dem gleichen Anspruch. Lapidar ausgedrückt: Nordkorea gibt es, weil es ein Südkorea gibt – und vice versa.
Bemerkenswert ist dabei, dass Korea vor der 1905 einsetzenden Ära japanischer Fremdherrschaft während Jahrhunderten ein homogenes Reich gebildet und eine eigenständige Kultur und Gesellschaft entwickelt hatte. Darum weisen die beiden Korea trotz ihrer gegensätzlichen Regimes noch heute kulturelle Gemeinsamkeiten auf und darum streben beide unter entgegengesetzten Vorzeichen die Wiedervereinigung an. Leicht unterschiedlich waren die Wirtschaftsverhältnisse: der Norden hatte mehr Bodenschätze, der Süden mehr Agrarland.
Die beiden Landesteile leben in einem gespaltenen Nationalismus, der trotz wesentlicher Unterschiede der politischen Systeme offensichtlich die gleiche Ausgangslage hat. Andersartig wurden die Zwillinge vor allem durch die politischen Systeme nach dem Zweiten Weltkrieg: stalinistisch-sozialistisch im Norden, autoritär-kapitalistisch im Süden. Dabei war die südkoreanische Diktatur von Rhee Syng-man (1948-1960) nicht demokratischer als die Diktatur im Norden.
Ein internationaler Bürgerkrieg
Die Teilung Koreas entlang des 38. Breitengrades war das Resultat einer Absprache zwischen USA und UdSSR – und eine Neuauflage einer zwischen Russland und Japan schon Ende des 19. Jahrhunderts ins Auge gefassten Teilung. 1945 überliess Amerika den Russen, die am Schluss noch schnell schnell in den Krieg gegen Japan eingetreten waren, zunächst ganz Korea. Nach den Atombomben von Hiroshima und Nagasaki bekamen sie aber Appetit auf eine Hälfte.
Der im Juni 1950 vom Norden ausgelöste Krieg war zu Beginn ein Bewegungskrieg, zunächst mit einem Beinahesieg des Nordens, doch schon im September 1950 führten internationale Streitkräfte einen Beinahesieg des Südens herbei, doch dann griff China mit Hunderttausenden von «Freiwilligen» ein.
Anschliessend zog sich über Jahre ein Stellungskrieg hin, der ein internationaler Bürgerkrieg zwischen zwei Lagern war, die sich in ihrer Substanz, also unabhängig von der politischen Einfärbung, so wenig unterschieden wie die Kriegsparteien in Europa während des Ersten Weltkriegs.
Mehr Bomben als im Zweiten Weltkrieg
Während des Koreakrieges wurden auf beiden Seiten grosse Massaker verübt. Der Norden erlitt aber, weil die Amerikaner die Möglichkeiten ihrer Luftwaffen gnadenlos einsetzten, ungleich mehr Bombardierungen. Dazu zirkulieren eindrückliche Zahlen: 635’000 Tonnen Bomben wurden über das kleine Land abgeworfen, mehr als im ganzen Zweiten Weltkrieg (den Pazifikkrieg mitgerechnet).
Ein grosser Teil der Kriegsverbrechen fand nicht im Norden, sondern im Süden statt, der heute zu Amerika gehört, von diesem aber nicht ganz fremdbestimmt sein möchte. Viele Gräuel wurden von südkoreanischen Kräften verübt, die von US-Streitkräften eingerahmt waren. Das bekannteste ist das Massaker von Jeju von 1948, in dem Hunderte von Bauern- und Fischerdörfer ausgelöscht und 30’000 bis 60’000 Menschen liquidiert wurden, weil man sie der Sympathie mit den Kommunisten verdächtigte.
Einem dieser Massaker, das in der nordkoreanischen Provinz Sinchon, hat Picasso 1951 mit dem Bild «Massacre en Corée» im kollektiven Gedächtnis zu einem kleinen Platz verholfen. Ansonsten ist dieses koreanische «Gross-Srebrenica» weitgehend vergessen.
Ein äusserer Feind zur inneren Stabilisierung
Erst ein halbes Jahrhundert später setzte 1999 unter dem südkoreanischen Staatschef und Friedensnoblpreisträger Kim Dae-jung die Aufarbeitung dieser schwarzen Vergangenheit ein. Analoges wäre im Norden ein Ding der Unmöglichkeit. 2005 wurde im Süden eine Truth and Reconciliation Commission eingesetzt, wie wir das aus Südafrika kennen, und mit einem Budget von 19 Millionen Dollar ausgestattet. In den südkoreanischen Geschichtsbüchern steht allerdings bis heute nichts davon.
Im Norden speist sich Hass auf das imperialistische Amerika weniger aus Erinnerungen aus dem Koreakrieg. Er nährt sich von den permanenten Spannungen, für die zum Beispiel die Affäre um das 1968 gekaperte und bis heute in nordkoranischem Besitz verbliebene Aufklärungsschiff USS Pubelo steht.
Der Hass lebt von der vermeintlichen und tatsächlichen Unsicherheit der Regimes in Pjöngjang. Dieses braucht als totalitäres Regime aus Gründen der inneren Stabilisierung den äusseren Feind. Und es meint, zur eigenen Versicherung gegen externe Beseitigungsaktionen die Atombombe haben zu müssen.
Ein doppelter Regenbogen über dem heiligen Berg
Stalinistischer Autoritarismus und eine allen Diktaturen eigene Paranoia mit permanenter Alarmbereitschaft verbinden sich mit einer zutiefst religiösen Gläubigkeit konfuzianischer Ausrichtung. Über Staatsgründer Kim il Sung, geboren 1912 – er ist der erste der drei Kims mit Staatschef-Funktionen – erzählt die Staatspropaganda, dass er auf dem heiligen Berg Packtusan zur Welt gekommen sei, über dem sich im Moment der Geburt ein doppelter Regenbogen gespannt, eine Vogelschar zu jubilieren begonnen habe und ein alles erleuchtender Stern in den Himmel aufgestiegen sei.
Diese göttliche Ausgangsqualität konnte und kann – trotz verschiedenster Frauenbeteiligung – von weiteren Generationen beansprucht werden. Aber sie bewahrte den erstgeborenen Kim Jong Nam (*1971), Sohn von Kim Jong-il, (*1941), nicht davor, im Februar 2017 auf dem Flughafen von Kuala Lumpur per Giftattentat aus der Welt geschafft zu werden.
Seit Dezember 2011 ist nun Kim Jong-un (*1984), der «geliebte» und «grossartige» Führer. Und da dieser in der Schweiz (Liebefeld Steinhölzli in Köniz) zur Schule ging, sind kürzlich wieder Presseartikel zur Frage produziert worden, wie es möglich ist, dass Männer (wie etwa auch Assad), die ihre Jugend in Demokratien verbrachten, nach ihrer Rückkehr in die Heimat wie ihre Vorgänger Despoten werden.
Vielleicht sollte man Nordkorea mit Investitionen überschwemmen, weil die Diktatur dann wegen des wachsenden Wohlstands in sich zusammenbricht.
Jetzt wird international darüber beraten, wie man den mit Mega-Bomben drohenden Despoten beziehungsweise das Regime, dem er vorsteht, in Schach halten kann. Krieg oder Sanktionen? Wenn das die Alternative ist, werden Sanktionen bevorzugt. Doch welche? Da gibt es immer Leute, die das entweder für nutzlos oder schädlich und kontraproduktiv halten.
Vom fernen Schreibtisch aus kann man auch die Idee vertreten, dass man die kommunistische Volksrepublik mit Investitionen überschwemmen sollte, weil die Diktatur dann wegen des in die Breite wachsenden Wohlstands in sich zusammenbricht.
Wie eine blühende Wirtschaft auch demokratische Kultur erblühen lässt, zeigt die Entwicklung im kapitalistischen Süden, der sich, wie gesagt, in der Ausgangslage nicht grundsätzlich vom Norden unterschied. Und dass es auch im Süden diktatorische Spurenelemente gibt, zeigte das Regime der Präsidentin Park Geun Hye. Diese konnte aber vom Verfassungsgericht regulär abgesetzt und in demokratischen Wahlen ersetzt werden.
PS: In den Jahren um 2005 bis 2010 unterrichtete der Schreibende am Basler Europainstitut, vom Deza vermittelt, dreimal nordkoreanische Beamte in Fragen der europäischen Integrationspolitik. An sich war das hoch geheim, aber alle Teilnehmenden, die täglich mit dem Tram von Muttenz nach Basel fuhren, trugen das Abzeichen ihres geliebten Führers am Revers.
Es waren gute, das heisst sehr normale Menschen. Sie beteiligten sich frei an den Debatten, ohne Rücksicht auf ihren Delegationsleiter und Aufseher, den es natürlich gab. Und einige sprachen ein besseres Englisch als der Schreibende. Solche Menschen vor Augen, liegt der Gedanke nahe, dass ein versöhnliches Zusammenkommen der beiden Korea möglich sein sollte.