Es waren die grössten Demonstrationen in der jüngeren Geschichte der Türkei: Mehr als 3,5 Millionen Menschen gingen im Sommer 2013 gegen die Regierung Erdogan auf die Strasse. Die Massenproteste sind anscheinend folgenlos geblieben. Aber das stimmt nur auf den ersten Blick: Die Politisierung der Jugend wird nicht ohne Folgen bleiben.
Es war die grösste Protestwelle in der Geschichte der modernen Türkei: Mehr als 3,5 Millionen Menschen gingen im Frühsommer 2013 auf die Strassen und Plätze. Die Demonstrationen entzündeten sich an der gewaltsamen Räumung eines Lagers, mit dem einige Umweltschützer im Istanbuler Gezi-Park gegen ein Bauprojekt protestierten.
Vom Gezi-Park am Rand des Taksim-Platzes breiteten sich die Demonstrationen auf 80 der 81 türkischen Provinzen aus – eine landesweite Massendemonstration gegen die islamisch-konservative Regierung und den zunehmend autoritären Führungsstil des damaligen Premierministers und heutigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Die Bilanz der Unruhen, die 112 Tage andauerten: Fünf Tote und über 81’000 Verletzte.
17 Monate später erinnert am Taksim-Platz nichts mehr an die Proteste. Passanten hasten über die riesige betonierte Fläche, auf dem Weg zur Arbeit oder unterwegs zu ihren Einkäufen. Immerhin: Die Bäume im Gezi-Park, deren geplante Abholzung die Demonstrationen auslöste, stehen noch.
Der Glaube an eine Illusion
«Die Gezi-Bewegung ist zu Ende», sagt der Istanbuler Politik-Professor Mensur Akgün. «Das kann man schon daran ablesen, dass Erdogan im August mit 52 Prozent der Stimmen zum Staatspräsidenten gewählt wurde.» Die Vorstellung der Gezi-Demonstranten, sie wären in der Mehrheit und könnten die Regierung stürzen, sei eine Illusion gewesen, so der Politologe Akgün. Tatsächlich haben weder die Gezi-Proteste noch die im vergangenen Dezember aufgekommenen Korruptionsvorwürfe verhindern können, dass Erdogan ins höchste Staatsamt aufstieg. Er habe die Proteste als Herausforderung seiner Macht gesehen, entsprechend hart reagiert und die Kraftprobe gewonnen, sagt Akgün.
Eine Schwäche der Gezi-Bewegung habe auch darin gelegen, dass sie aus Menschen ganz unterschiedlicher sozialer und politischer Herkunft bestand, glaubt der Politikwissenschaftler: «Das Spektrum reichte von Nationalisten über Kemalisten und Sozialisten bis hin zu Kommunisten und radikalen Muslimen – ausser der Gegnerschaft zur Regierung gab es keine gemeinsame Basis.»
Die Angst vor Repressalien bleibt
Eine, die dabei war, ist die Studentin Ince. Die 23-Jährige will ihren vollen Namen nicht nennen. Immer noch laufen Strafverfahren gegen Gezi-Demonstranten, sie fürchtet Repressalien. Die junge Türkin widerspricht der These, dass Gezi «vorbei ist». Aus der Protestbewegung, so sagt Ince, seien in Istanbul und vielen anderen Städten zahlreiche Stadtteil-Initiativen hervorgegangen, die sich mit lokalen Fragen befassen, etwa sozialen oder ökologischen Themen.
«Vielerorts beginnen diese Initiativen sich nun zu grösseren, übergreifenden Bürgerbewegungen zu organisieren», berichtet die Studentin. «Die Menschen mischen sich ein, sogar in Kleinstädten und Dörfern kämpfen sie für ein Stück Wald oder eine Grünanlage, die durch Bebauungsprojekte bedroht sind.» Gezi sei eine «sehr spontane, sehr chaotische Bewegung» gewesen, die sich jetzt organisiere.
Auch der türkische Unternehmer Osman Kavala, der seit Jahren gemeinnützige Projekte wie Jugend- und Kulturaustauschprogramme finanziert, glaubt: «Gezi hat die Türkei verändert.» Auch wenn es auf den ersten Blick nicht sichtbar sei, habe die Protestbewegung Spuren hinterlassen, sagt Kavala: «Es gibt Foren und Initiativen, die Zivilgesellschaft beginnt sich zu formieren. Die Proteste haben zu einer Politisierung der Jugend geführt, und das wird sich langfristig auswirken.»
Keine eindeutigen Konsequenzen
Eine politische Partei, wie von manchen gehofft, ist aus Gezi allerdings nicht hervorgegangen – oder vielleicht doch? Viele sehen in der Demokratischen Partei der Völker (HDP) ein Sammelbecken der Protestbewegung. Die HDP ging aus der pro-kurdischen BDP hervor, definiert sich aber nicht ethnisch, sondern will die kurdische Bürgerrechtsbewegung mit linken Strömungen vereinen und damit auf eine breitere Basis stellen. Das scheint im Ansatz bereits zu gelingen: Während Kurdenparteien in der Türkei landesweit nie über sechs Prozent hinauskamen, erzielte der HDP-Kandidat Selahattin Demirtas bei der Präsidentenwahl fast zehn Prozent.
Die politischen Langzeitperspektiven der Gezi-Proteste sind noch nicht klar zu erkennen. Es gibt allerdings greifbare negative Konsequenzen. Dazu gehören die Internetzensur, die verschärften Sicherheitsgesetze und die Strafverfahren gegen Demonstranten, darunter 35, denen wegen «versuchten Umsturzes» lebenslange Haft droht.
Auch über das Bauprojekt im Gezi-Park ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Erdogan will dort die Replika einer osmanischen Kaserne errichten. Ein Gericht untersagte den Bau zwar. Aber das muss nichts bedeuten. Auch für Erdogans neuen Präsidentenpalast ordnete ein Gericht einen Baustopp an, weil der Kolossalbau mitten in einem Naturschutzgebiet hochgezogen wurde. Trotzdem liess Erdogan weiterbauen und verhöhnte die Richter: «Sollen sie das Gebäude doch abreissen, wenn sie die Macht dazu haben!»