Der Ausstieg der Briten aus der EU wird Europa gehörig durchschütteln, aber er könnte auch der Anfang einer sozialeren Politik sein.
Heute ist alles anders, bis auf das Bier. Wie jeden Freitagmittag stehen Banker, Analysten, Broker und Versicherungsangestellte in den Pubs der City of London, dem Londoner Finanzviertel, aber so richtig mag sich niemand aufs Wochenende freuen – zu tief sitzt der Schock, dass es jetzt tatsächlich zum Brexit gekommen ist.
Hier, im historischen Kern der britischen Hauptstadt, waren die Folgen des Abstimmungsresultats am unmittelbarsten zu spüren – der Tag begann mit einem dramatischen Absturz des Pfunds –, und über dem geselligen Beisammensein der Finanzangestellten liegt eine nervöse Stimmung.
In den Strassen werden Sonderausgaben der «Financial Times erteilt», deren Schlagzeile lautet: «It’s Brexit – now what?» Ein junger Italiener steht mit seinen Kollegen vor dem «New Moon» und nippt an einem Pint, im Gesicht ein besorgter Ausdruck. «Ich hatte es nicht erwartet», sagt der Wertpapierhändler. «Besonders schockiert hat mich die tiefe Spaltung des Landes», meint sein Kollege. In ihrem Unternehmen sind sechzig Prozent der Angestellten aus dem Ausland, jetzt fürchten sie sich nicht nur um die britische Wirtschaft, sondern auch um ihre eigene Zukunft in Grossbritannien.
Frustration in Brüssel
Am Tag, an dem die Briten der Europäischen Union den Rücken kehrten, schien sich die Geschichte zu verdichten – Prozesse, die seit langem im Gang sind, haben sich beschleunigt, alte Gewissheiten haben sich plötzlich aufgelöst, und bereits sind die Umrisse fundamentaler Veränderungen zu erkennen, sowohl in Grossbritannien als auch im Rest Europas.
Wie folgenschwer der Brexit ist, zeigte sich innerhalb weniger Stunden: Der Premierminister erklärte seinen Rücktritt, in Schottland – wo das Votum für den Verbleib in der EU überwältigend war – wurde ein neueres Referendum über die schottische Unabhängigkeit gefordert, und in Irland sind Rufe nach einer Öffnung der Grenze zwischen dem Norden und dem Süden laut geworden.
Unterdessen machte sich in Brüssel Frustration breit: Der Präsident des Europaparlaments bekundete seine Absicht, Grossbritannien so schnell wie möglich aus dem Staatenbund zu kippen. Es könne nicht sein, dass ein ganzer Kontinent aufgrund eines Streits in der Tory-Partei in Geiselhaft genommen werde.
Das Votum der 17 Millionen EU-kritischen Britinnen und Briten als einen Ausdruck purer Xenophobie zu lesen, ist unsinnig.
Die meisten Regierungen der restlichen EU-Mitgliedstaaten bedauern den Verlust des politischen und wirtschaftlichen Schwergewichts, aber vor allem fürchten sie sich vor der Ansteckungsgefahr der EU-Skepsis: So warnte etwa der österreichische Außenminister Sebastian Kurz vor einem «Domino-Effekt», und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker schliesst weitere Referenden nicht aus. Nur am rechten Rand der Europapolitik freuen sich die Demagogen – der Front National in Frankreich gratulierte den Briten zu ihrem Entscheid, und die FPÖ in Österreich begrüsst den Brexit als ein Zeichen gegen den «Migrationswahn».
Doch das Votum der 17 Millionen EU-kritischen Britinnen und Briten als einen Ausdruck purer Xenophobie zu lesen, ist unsinnig. Sicher spielten Ängste über die Immigration eine entscheidende Rolle – Ängste, die Populisten wie Nigel Farage und Boris Johnson bewusst schürten –, aber ein Blick auf die Abstimmungsresultate zeigt auch etwas anderes: Viele Menschen im Norden Englands, in Arbeiterstädten wie Durham oder Hull, die traditionell Labour wählen, haben sich für den Brexit ausgesprochen.
Ausländerfeindlichkeit kann nicht allein dafür verantwortlich sein. Für viele «Brexiteers» war vielmehr die Einsicht entscheidend, zu den Verlierern der ökonomischen Entwicklung und der Globalisierung zu zählen. Die Deindustrialisierung dieser Gebiete hat zu einem wirtschaftlichen Niedergang geführt, von dem sich die Communities bis heute nicht erhohlt haben: Die Arbeitslosigkeit ist hoch, viele Haushalte sind verarmt. Aus Westminster kam keine Hilfe, sondern das Gegenteil: eine drastische Sparpolitik, die die soziale Not verschärft.
Warnungen der Notenbanken als Ansporn
Wer in dieser Situation eine Gelegenheit auf eine Veränderung des Status quo erblickt, wird sie ergreifen. Wer dem Establishment den Finger zeigen will (oder, nach britischer Manier, zwei Finger, was das gleiche bedeutet), der stimmt für den Brexit – und die zuweilen hysterischen Warnungen von Notenbanken, internationale Wirtschaftsexperten und -organisationen, ausländischen Staatschefs und allen Parteien in Westminster sind nur ein Ansporn, es erst recht zu tun. Für viele war der Brexit eine rare Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen.
Das ändert jedoch nichts daran, dass die prominenten Brexit-Champions in Westminster selbst zum Establishment gehören und sich keinen Penny um die Probleme der sozial Unterprivilegierten scheren: Für den Opportunisten Boris Johnson ist der Brexit ein Mittel zur Förderung der eigenen Karriere, während der Rest der euroskeptischen Tories die Neoliberalisierung der Wirtschaft, die überhaupt erst zum Protest der sozial Unterprivilegierten geführt hat, weiter vorantreiben will.
Für den Opportunisten Boris Johnson ist der Brexit ein Mittel zur Förderung der eigenen Karriere.
So muss es nicht kommen: Die Unsicherheit, die im Grossbritannien ausgebrochen ist, die Instabilität des politischen Gefüges und die Spaltung des konservativen Lagers wird in den kommenden Monaten auch Chancen für eine progressivere Politik bieten. Der Scheinlösung der Parole «Grenzen zu» muss eine wirkliche politische Alternative gegenübergestellt werden – etwa ein Ende des Sozialabbaus –, von der die ärmsten des Landes tatsächlich profitieren.
Auch im Rest der EU könnte der Brexit zu einem Umdenken führen: Der ehemalige EU-Kommissionspräsident Romano Prodi meinte etwa: «Wir sollten uns darüber Gedanken machen, dass die Reichen für einen Verbleib und die Armen für einen Austritt aus der EU gestimmt haben.» Matteo Renzi und Alexis Tsipras fordern ein sozial gerechteres Europa. Eine solche Neuorientierung Europas, eine Stärkung der Demokratie und eine Abkehr von der Sparpolitik, die zu viele Menschen in die Armut gestürzt hat und sie vom öffentlichen Leben ausschliesst, könnte die einzige Möglichkeit sein, den Aufstieg der rechtspopulistischen EU-Kritiker zu stoppen.