Als erstes trifft es die Kroaten: Nach dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative gibt es für sie keine Personenfreizügigkeit. Der Umgang mit dem jüngsten Mitglied gibt einen Vorgeschmack auf Umsetzung des Volksentscheids.
Für einmal geht es nicht um Fussball. Das 2:2 mit oder gegen Kroatien vor einer guten Woche liegt schon weit, weit hinter uns. Vor uns liegt die Frage, wie wir, die Schweiz, mit der fälligen Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien umgehen.
Kroatien ist am 1. Juli 2013 als 28. Mitglied in die EU aufgenommen worden und zählt eine Bevölkerung von 4,3 Millionen. Das Wanderungspotenzial dieses kleinen Landes ist für die ebenfalls kleine Schweiz wirklich kein Problem. Dennoch musste erwartet werden, dass gegen die Ausweitung der Freizügigkeit auf dieses Land eine Referendumsabstimmung angezettelt würde, weil diese Gelegenheit geboten hätte, mit einem Nein gleich die ganze Personenfreizügigkeit zu Fall zu bringen.
Dies ist nun nicht mehr nötig, weil mit dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative auch das Kroatien-Dossier ohnehin nicht weiterbearbeitet wird. Die Sache ist pendent. Das kann sie aber nicht beliebig lang bleiben, jedenfalls nicht drei Jahre lang. Es ist bloss Zufall, dass sie gerade jetzt in den schwierig gewordenen Beziehungen CH/EU auf der Agenda steht. Das Kroatien-Dossier hätte auch einiges vorher oder einiges nachher anfallen können. Für diejenigen jedoch, die in beiden Lagern möglichst schnell eine Klärung der Verhältnisse wünschen, ist das ein willkommener Zufall.
Als dürfte der Jura nicht mitmachen
In der ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz fällt die Zahl der kroatischen Staatsbürger nicht ins Gewicht: Von 1992 bis 1994 ist sie auf gegen 45’000 gestiegen und nimmt seither kontinuierlich wieder ab und betrug Ende 2013 30’729.
Die Schweiz hat das Protokoll III zur Erweiterung des Freizügigkeitsabkommens auf Kroatien bereits 2013 unterzeichnet (in der Fachsprache: paraphiert). Dies war eine selbstverständliche Anpassung an das allgemeine Freizügigkeitsabkommen, das zusammen mit den Abkommen der Bilateralen I von einer Abstimmungsmehrheit mit 67,2 Prozent Ja-Stimmen für die 15 alten EU-Mitglieder bereits im Jahr 2000 gutgeheissen worden war. In späteren Schritten erfolgte die Ausdehnung auf weitere EU-Neumitglieder: im September 2005 um zehn (unter anderen Polen) und im Februar 2009 um noch einmal zwei (Bulgarien/Rumänien).
Für die Schweiz ist eine solche Erweiterung jedes Mal ein neuer Schritt, zu dem das ganze Volk der stimmberechtigten Schweizer und Schweizerinnen – theoretisch wie praktisch – Ja oder Nein sagen kann. Für die EU dagegen kommt nur ein Ja oder Nein zur Freizügigkeit mit allen EU-Mitgliedern in Frage. Für die Europäische Union wäre die Hinnahme einer Ablehnung eines jüngst hinzugekommenen Mitglieds etwa so, als würde die Schweiz zum Beispiel bei einem Vertrag mit dem Ausland akzeptieren, dass dieser nicht für den jüngsten Kanton, den Jura, gilt. Man kann nicht eines seiner Staats- oder Unionsmitglieder schlechter stellen als die anderen. Dies gilt für die EU in besonderem Masse, weil ihr zentrales Prinzip in allen Belangen die Nichtdiskriminierung ist.
Für die EU stehen völkerrechtliche Verträge über nationalen Verfassungsänderungen.
Kommt noch eine weitere Differenz hinzu: Während in der Schweiz aus einem atavistischen Stammesdenken beträchtliche Kräfte das eigene Landesrecht (und den Volkswillen) über dem zwar selbst eingegangenen und selbst übernommenen, aber gerne als «fremd» eingestuften Völkerrecht sehen wollen, gilt in der supranationalen EU die Auffassung, dass völkerrechtliche Verträge über nationalen Verfassungsänderungen stehen.
Prinzip gegen Prinzip
Sehr sonderbar ist die Ansicht der absoluten Verteidiger von «Volksentscheiden» der direkten Demokratie, wonach die EU diesem Entscheid einer doch kleinen Gruppe eines doch kleinen Landes Rechnung tragen und ihre Prinzipien opfern werde. Das wird sie nicht nur darum nicht tun können, weil die abseitsstehende Schweiz wenig ins Gewicht fällt, sondern weil die EU auch im Kreis ihrer 28 Mitglieder konsequent bleiben muss.
Hier steht Prinzip gegen Prinzip: auf der einen Seite über Verträge vereinbarte Teilnahme an einem ganzheitlichen Binnenmarkt – auf der anderen Seite die direktdemokratisch beschlossene Rückkehr zu einem Kontingentierungssystem. Mit welchem Argument kann man erwarten, dass die EU ihre Prinzipien weniger wichtig nehmen soll als die Schweiz, wie jetzt betont wird, das eigene?
Bei diesem Punkt kommen diejenigen ins Spiel, die von Kompromissen reden. Ein schnell sich anbietender Kompromiss bestünde darin, dass die Kontingente einen flexiblen Deckel bekommen (und damit keine mehr sind) beziehungsweise so gross angesetzt werden, dass die realen Zahlen der freien Freizügigkeit sie nie ausfüllen werden. Abgesehen davon, dass dies eine unwürdige Trickserei ist, widerspräche es auch den Absichten der Initianten und dem «Volkswillen», der soeben gesiegt hat.
Abrupter Marschhalt
Nachdem die EU den Beschluss zur Routine-Unterzeichnung des Protokolls III im Februar 2014 gefasst hat, wäre die Unterzeichnung durch den Bundesrat auf den März 2014 vorgesehen gewesen. Dies hätte bedeutet, dass die Schweiz ab Datum der Unterzeichnung den Arbeitsmarkt für kroatische Bürger mit Kontingenten für L- und B- Bewilligungen provisorisch geöffnet hätte.
Der Bundesrat hat nun aber nach dem 9. Februar völlig folgerichtig den Ratifizierungsprozess nicht weiterverfolgt. Denn der an diesem wirklich historischen Tag angenommene neue Verfassungsartikel 121 bestimmt in Abs. 4: «Es dürfen keine völkerrechtlichen Verträge abgeschlossen werden, die gegen diesen Artikel verstossen.» Das Protokoll III ist ein solcher, und der Abs. 4 ist die einzige nach dem Abstimmungssonntag direkt anwendbare Bestimmung. Da muss und kann man sich nicht wie bei den restlichen Bestimmungen gelassen drei Jahre Zeit für die Umsetzung auf Gesetzesebene nehmen.
In unserem Land gibt es – wie überall – Bürger, die sich viel klüger als ihre Landesregierung fühlen und meinen, der Bundesrat hätte doch noch schnell vor dem 9. Februar seine Unterschrift unter das Protokoll III setzen sollen. Hier muss an eine elementare Staatsbürgerlektion erinnert werden: Selbst bei einem derartigen Minivertrag muss die Exekutive mit einer Botschaft an die Legislative gelangen und deren Zustimmung einholen und danach wäre auch noch die Referendumsfrist angelaufen. Die Referendumsabstimmung wäre irgendwann in den Zeitraum 2015/2016 zu liegen gekommen.
Eingefrorene Erweiterung mit Signalwirkung
Auch wenn es jetzt etwas technisch wird, klar ist: Die äussere Ratifizierung kann erst nach Abschluss des innerdemokratischen Zustimmungsverfahrens erfolgen. Die Vertragsparteien notifizieren allerdings bereits zuvor den Abschluss des internen Ratifikationsverfahrens oder des Genehmigungsverfahrens (Art. 6 Abs. 2 Kroatien-Protokoll). Das Protokoll tritt aber erst am ersten Tag des ersten Monats nach der letzten Notifizierung, der eigentlichen Ratifikation, in Kraft.
Gemäss Staatssekretär Yves Rossier will die EU im Moment vor allem wissen, ob sich die Schweiz unter den neuen Gegebenheiten an das Freizügigkeitsabkommen halten kann – oder nicht. Formell muss das bestehende Regelwerk ja nicht sogleich in Frage gestellt werden. Hingegen ist seine Weiterführung in Frage gestellt wegen der schon jetzt eingetretenen Unmöglichkeit, die erwartete Ausdehnung auf Kroatien zu tätigen. Es fragt sich, ob das momentane Einfrieren der Erweiterung bereits ein negativer Entscheid oder mindestens ein ungutes Signal für die gesamte Freizügigkeit ist.
Kleiner Vorgeschmack
Selbstverständlich hat man schweizerischerseits den Kroaten sogleich erklärt, dass der Marschhalt nicht gegen sie gerichtet sei. Das dürfte auch verstanden worden sein, stärkt die Beziehungen zwischen den beiden Ländern aber trotzdem nicht. Früher konnte sich die Schweiz bei Sonderwünschen mit der fast selbstverständlichen Unterstützung der EU-Mitglieder begnügen, die ihre unmittelbaren Nachbarn waren und sind. Jetzt aber braucht sie auch die Zustimmung der «neuen» EU-Mitglieder – Kroatien eingeschlossen. Und Kroatiens Botschafter Aleksandar Heinar hat nun in der NZZ am Sonntag erklärt, es sei «inakzeptabel», weiterhin als Drittland behandelt zu werden
Die Schweiz hatte schon im April 2013 mit einem hilf- und aussichtslosen Versuch, die innereidgenössische Front zu beruhigen, die Ventilklausel angerufen, welche die Zuwanderung aus den EU-Neumitgliedern beschränken sollte, und damit einen Teil dieser EU-Staaten unnötig brüskiert. Einen spürbaren Effekt auf die gesamte Zuwanderung ergab sich nicht, aber den Effekt der berechtigten Verärgerung der betroffenen Herkunftsländer hatte man sehr wohl.
Trotz der kroatischen EU-Mitgliedschaft gelten zurzeit für Bürgerinnen und Bürger dieses Landes bei der Vergabe von Schweizer Aufenthaltsbewilligungen nach wie vor die ausländerrechtlichen Bestimmungen für Drittstaatsangehörige. Dies bedeutet, dass Schweizer Arbeitgeber die Rekrutierungsprioritäten im Inland und unter den EU/Efta-Staatsangehörigen (Inländervorrang) berücksichtigen müssen, bevor sie Arbeitskräfte aus Kroatien einstellen dürfen. Zudem müssen sie nachweisen, dass die Lohn- und Arbeitsbedingungen erfüllt sind. Das gibt einen kleinen Vorgeschmack darauf, was für Anstellungen von Arbeitskräften aus allen 28 EU-Staaten auf uns zukommen kann.