Nach den deutlichen Stimmverlusten der AKP bei den Parlamentswahlen am vergangenen Sonntag muss Staatsoberhaupt Tayyip Erdogan seine Pläne für ein Präsidialsystem begraben – eine gute Nachricht für die Türkei und ihre Partner. Eine Analyse.
Ministerpräsident Ahmet Davutoglu spricht von einem «heroischen Sieg». Die oppositionsnahe Zeitung «Sözcü» titelt dagegen: «Zusammenbruch». So unterschiedlich können die Wahrnehmungen sein. Davutoglu wird die Zahlen des Wahlergebnisses gelesen haben. Aber verstanden hat er sie offensichtlich nicht. «Wir werden uns keiner Macht beugen», verkündete der Premier in der Wahlnacht.
Moment mal – sind seiner AKP gegenüber der Parlamentswahl von 2011 nicht 3,2 Millionen Wähler davongelaufen? Ging ihr Stimmenanteil nicht von fast 50 auf weniger als 41 Prozent zurück? Hat sie nicht ihre absolute Mehrheit in der Nationalversammlung verloren?
Davutoglu sollte sich mit den Realitäten vertraut machen. Die Pläne für die Einführung eines Präsidialsystems, mit dem sich Davutoglus politischer Gönner Recep Tayyip Erdogan zu einer Art Alleinherrscher aufschwingen wollte, sind mit diesem Wahlergebnis vom Tisch. Davutoglu hat die dafür mindestens nötige Dreifünftelmehrheit im neuen Parlament weit verfehlt. Gestützt auf die eigenen Stimmen seiner Fraktion kann er keine stabile Regierung führen. Er könnte ein Minderheitskabinett bilden, aber dessen politische Handlungsfähigkeit wäre eingeschränkt, seine Lebensdauer begrenzt. Länger als ein Jahr oder 18 Monate könnte eine Minderheitsregierung kaum durchhalten.
Rosen reichten nicht: Ministerpräsident Ahmet Davutoglu und sein politischer Ziehvater müssen nun über die Bücher und eine Koalition anstreben. (Bild: MURAD SEZER)
Deshalb sind auch die Oppositionsparteien aufgerufen, aus diesem Wahlergebnis die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Alle drei Chefs der Oppositionsparteien beeilten sich zu versichern, sie würden auf keinen Fall in eine Koalition mit der AKP eintreten. Das ist als erste Reaktion nachvollziehbar, nachdem Davutoglu und Erdogan im Wahlkampf die Oppositionsparteien geradezu dämonisierten. Es muss und sollte aber nicht das letzte Wort sein. Die anderen drei Parteien sollten jetzt Möglichkeiten zur Zusammenarbeit mit der AKP ausloten. Dazu gehört allerdings auch, dass Davutoglu – oder wer auch immer die AKP nach diesem Debakel führen wird – von seinem hohen Ross heruntersteigt.
Konsens Unfähigkeit stürzte die Türkei bereits einmal in eine Wirtschaftskrise
Es stimmt: Die Türkei hat in der Vergangenheit mit Koalitionsregierungen schlechte Erfahrungen gemacht. In den 1970er Jahren gab es nicht weniger als zehn Regierungswechsel. Der Dauerstreit der Parteien führte schliesslich zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen und mündete in den Militärputsch vom September 1980. Anfang der 2000er Jahre stürzte die Unfähigkeit der Parteien zum Konsens das Land in die schwerste Wirtschafts- und Finanzkrise seiner jüngeren Geschichte.
Diese Erfahrungen sprechen aber nicht grundsätzlich gegen Koalitionen, wie gute Erfahrungen in anderen europäischen Ländern zeigen. Nach fast 13 Jahren Alleinherrschaft der AKP braucht die Türkei einen Wandel. Die Wirtschaft schwächelt, weil Strukturreformen lange vernachlässigt wurden. Die Gesellschaft ist gespalten, weil Erdogan den Menschen seine konservativ-islamische Agenda aufzwingen wollte.
Das türkische Parlament ist nun einigermassen repräsentativ
Nun dürfte schon deshalb neue Bewegung in die Politik kommen, weil mit der HDP erstmals eine pro-kurdische Partei den Sprung ins Parlament schaffte. Damit hat die grösste, immerhin rund 15 Millionen Menschen umfassende ethnische Minderheit endlich eine angemessene Vertretung in der Nationalversammlung.
So ist das politische Spektrum im türkischen Parlament nun einigermassen repräsentativ. Dass die HDP sich nicht als Kurdenpartei per se definiert sondern bei dieser Wahl auch die Stimmen vieler nicht-kurdischer, linker und liberaler Oppositioneller bekam, gibt der kleinsten Partei im neuen Parlament eine besondere Legitimation und Verantwortung.
Erste Reaktion von Erdogan lässt hoffen
Viel wird jetzt davon abhängen, wie Staatspräsident Erdogan agiert. Das Wahlergebnis ist vor allem für ihn persönlich ein bitterer Rückschlag. Aber er hätte jetzt die Gelegenheit, doch noch die Rolle des Staatsoberhauptes anzunehmen, das über den Parteien steht. Insofern ist dies Erdogans Stunde.
Die erste Reaktion lässt immerhin hoffen: In einer am Montag herausgegebenen Erklärung mahnt der Präsident die Parteien zu «verantwortungsvollem Handeln» und «Feingefühl», um die demokratischen Errungenschaften zu bewahren. Hoffentlich bleibt es bei dieser Besonnenheit. Sonst könnte die Türkei turbulenten Zeiten entgegen gehen.