Wenn es um die Umsetzung der SVP-Initiative geht, heisst das neue Zauberwort: Schutzklausel. In Brüssel stösst das auf Skepsis.
Auf die Schweiz angesprochen, reagieren EU-Vertreter vorsichtig bis ungehalten. Er verstehe nicht, was das Problem sei, sagt der CDU-Europa-Abgeordnete Andreas Schwab. Die Zeiten der Rosinenpickerei seien endgültig vorbei, das müsse die Schweiz begreifen. In der EU hätten vor allem Deutschland und Österreich grosses Interesse an guten Beziehungen. «Die restlichen Länder interessieren sich kaum für die Schweiz», so Schwab.
Die Frage, die in der Schweiz derzeit für hitzige Diskussionen sorgt, ist: Kann der Bundesrat bei der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative die vielbeschworene Quadratur des Kreises schaffen – Kontingente einführen und die Personenfreizügigkeit beibehalten?
Die Aufgabe ist verzwickt: Der Verfassungsartikel 121a verlangt, dass die Schweiz die Zuwanderung in Form von Kontingenten und Höchstzahlen eigenmächtig steuert. Gleichzeitig sollen die «gesamtwirtschaftlichen Interessen» gewahrt werden.
Zuwanderung durch Migrationsraten begrenzen
Ein Vorschlag kam unlängst von ETH-Professor Michael Ambühl. Seine Grundidee besteht darin, einen Schwellenwert zu definieren, ab dem ein Land die Zuwanderung begrenzen kann. Dieser Wert soll aus dem Durchschnitt der Migrationsraten aller 32 EU- und Efta-Staaten errechnet werden – immer in Relation zum Mittelwert und zur Streuung im ganzen EU-/Efta-Raum.
Die Schutzklausel stellt den Grundsatz der Freizügigkeit nicht in Frage, da sie nur dann zur Anwendung käme, wenn die Schweiz, im Vergleich zu den anderen EU/Efta-Staaten eine viel grössere Migration an EU/Efta-Bürgern hätte.
Nicht ausgeschlossen, dass die EU verhandelt
Das «Modell Ambühl» findet laufend neue Unterstützung. Zwei Bundesräte stellten sich bereits hinter den Vorschlag. Bundesrat Schneider-Ammann betrachtet die Idee als die erfolgsversprechendste Option, um die Masseneinwanderungsinitiative umzusetzen. Justizministerin Simonetta Sommaruga äusserte sich ihrerseits in einem Interview positiv zur permanenten Schutzklausel: «Das könnte eine Piste sein.»
Zuletzt bekannte sich offiziell auch der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse zu der Idee. Nur: Spielt die EU mit? Die Völkerrechtsprofessorin der Universität Fribourg, Astrid Epiney, meint: «Es ist nicht ausgeschlossen, dass die EU über eine Schutzklausel verhandelt.»
Die EU-Kommission liess am Dienstag durchblicken, dass sie erst Stellung nimmt, wenn der offizielle Vorschlag des Bundesrates auf dem Tisch liegt. Auch der Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) will sich noch nicht äussern.
Politiker sind kreativ
Roberto Balzaretti, Schweizer Botschafter in Brüssel, ist nicht optimistisch. Die Chancen einer Schutzklausel sieht er als ungewiss: Wenn sie wie ein einseitig verordnetes Kontingent durch die Schweiz wirke, dann werde das die EU kaum akzeptieren. «Aber Politiker und Juristen sind bekanntlich kreativ.»
In der Taten haben die Schweiz und die EU bei den bisherigen bilateralen Verhandlungen bewiesen, dass es Wege gibt, politische Streitigkeiten so zu umschiffen, dass letztlich beide Seiten ihr Gesicht wahren konnten.
«Werden die Idee gerne prüfen»
Die Verhandlungen über eine Schutzklausel sind deshalb so schwierig, weil sie eine Revision des Freizügigkeitsabkommens nötig machen. Alle 28 EU-Staaten müssten dem Verhandlungsmandat zustimmen, das ihnen die EU-Kommission unterbreitet.
Skeptische Töne sind aus dem EU-Parlament zu hören. Der konservative deutsche Europaabgeordnete Andreas Schwab sagt: «Wir werden die Idee einer Schutzklausel gerne prüfen. Das Modell dürfte allerdings daran kranken, dass es Äpfel mit Birnen vergleicht.»
Aus seiner Sicht müsste die Zuwanderung von EU-Bürgern in die Schweiz nicht mit dem Durchschnitt aus dem EU/EFTA-Raum verglichen werden, sondern mit ähnlich gelagerten Regionen wie München oder Stuttgart. «Nimmt man diese Wirtschaftszentren als Vergleichswerte, dann würde der Schwellenwert für eine Intervention sehr hoch ausfallen.» Die Zuwanderung würde demnach kaum effektiv begrenzt. Die Wirkung einer Schutzklausel käme dann einem Placebo-Effekt gleich.
Schutzklausel ist kein Novum
Der österreichische Abgeordnete Paul Rübig (ÖVP) sieht die Schweiz – wie die EU-Staaten auch – primär in der Pflicht, bei konkreten Problemen wie Lohndumping, Sozialhilfe oder im Bildungswesen aktiv zu werden. Das Prinzip der offenen Grenzen in Europa bleibe für ihn hingegen unantastbar. «Von einer Schutzklausel generell eine Einschränkung der Zuwanderung abzuleiten, ist sicher der falsche Weg», so Rübig.
Die von Ambühl angeregte Schutzklausel könnte in das bestehende Freizügigkeitsabkommen eingebaut werden und die im Mai 2014 abgelaufene Ventilklausel ersetzen. Die Ventilklausel ist eine Art Notbremse, die es der Schweiz ermöglichte, für Zuwanderer aus acht osteuropäischen EU-Staaten (EU-8) wieder Kontingente einzuführen.
Der Bundesrat machte davon bereits zweimal Gebrauch, zuerst im April 2012 und ein Jahr später verlängerte er die Massnahme. Die daraus gezogenen Lehren blieben zwiespältig: Die Einwanderung aus einigen EU-Oststaaten stagnierte zwar vorübergehend, ist aber kaum gesunken.
Ventilklausel kein probates Mittel
Die Ventilklausel eignete sich kaum, die Zuwanderung zu reduzieren. Der Bundesrat setzte sich dem Vorwurf aus, er betreibe blosse Symbol-Politik und zerschlage obendrein viel Porzellan in Brüssel. Denn aus Sicht der EU war die einseitige Anwendung der Klausel auf ihre acht neuen Mitglieder schlichtweg diskriminierend und verstiess ihrer Meinung nach gegen das Freizügigkeitsabkommen.
Um diesen Streit zu schlichten, fehlte jedoch eine unabhängige Schlichtungsstelle. Den Brüsseler Amtsträger zeigte dieser Streit geradezu exemplarisch die Grenzen des hiesigen Bilateralismus auf. Es ist also mehr als fragwürdig, ob sich die EU bei den anstehenden Gespräche oder Verhandlungen erneut auf das Thema Schutzklausel einlassen wird.