Ein neuer Text für die Schweizer Hymne gibt zu reden. Statt Gott wird die Verfassung angerufen, was die Bewahrer wahrer Schweizer Werte auf die Palme treibt. Dabei muss man nicht so tun, als sei die bestehende Hymne seit jeher in Stein gemeisselt.
Der 1. August ist wieder einmal vorbei. Wie ist er im ganzen Lande gefeiert worden? Uns wird vor allem berichtet, welche grösseren und kleineren Prominenzen wo aufgetreten sind und was sie gesagt haben über das Vaterland und die Lage der Nation. Sodann, wie wunderbar gewisse Feuerwerke waren. Wie viele Menschen versammelt waren und welche kleineren Zwischenfälle es da gegeben hat. Und – natürlich das Wetter.
Eine ursprüngliche Gegebenheit des traditionellen Festes ist längst aufgegeben worden: das als typisch schweizerisch verstandene Masshalten, das darin bestand, am Nationalfeiertag wie an einem Werktag zu arbeiten und am Abend dann, mit sauberen Händen und sogar ein bisschen herausgeputzt, vor dem Feuer zu stehen. Jetzt aber wird auch darüber diskutiert, ob man sich nach dem 1. August einen Tag frei nehmen soll, um ausschlafen zu können.
Mit der betonten Schlichtheit wollte man sich in der Schweiz von den dröhnenden Feiertagen der Nachbarnationen abheben, so die Erklärung des Bundesrats, als er 1899 die nationale Jahresfeier einführte und ein Glockengeläut zu vorgeschriebener Abendzeit anordnete. 1993 ist per Urnenabstimmung der Schweizerische Nationalfeiertag ein fast gewöhnlicher Festtag geworden, und dies ausgerechnet dank der Initiative einer rechtsnationalen Kleinstpartei (der Schweizer Demokraten), die sonst gerne den Sonderfall verteidigte.
Die neue Hymne stösst auf wohlwollende Aufnahme und geharnischte Abwehr. Dazwischen breite Gleichgültigkeit.
Am eben gefeierten 1. August stand eine besondere Variante zur Verfügung: die neue Landeshymne. Die angesehene Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) hat im vergangenen Jahr nach einem breit angelegten Wettbewerb eine neue Hymne in Vorschlag gebracht und sich vor dem 1. August sogar herausgenommen, die Gemeinden zu ermuntern, dieses neue Lied auszuprobieren. Der eben begangene Nationalfeiertag war darum laut NZZ auch ein «grosser Hymnen-Test».
Wie das so läuft, waren die Reaktionen gemischt. Neben wohlwollender Aufnahme und Bereitschaft, Neues auszuprobieren, gab es auch geharnischte Abwehr und Empörung. Dazwischen breite Gleichgültigkeit.
Der Reformvorschlag kam in einer sorgfältigen Mischung zwischen Altem und Neuem daher: zwar ein halbwegs neuer Text, aber eine alte Melodie. Der Text orientiert sich an der Einleitung (Präambel) der vor 17 Jahren per Volksabstimmung eingeführten Bundesverfassung und will anstelle eines pathetischen Textes aus dem 19. Jahrhundert einen zeitgemässen Text für das 21. Jahrhundert zur Verfügung stellen, in dem die zentralen Werte der Gesellschaft an- und ausgesprochen beziehungsweise besungen werden: Frieden, Einheit in der Vielfalt, Freiheit, Solidarität, Unabhängigkeit, Sorge für die Umwelt, für die sozial Schwachen und künftige Generationen.
Solidarität und Frieden sind auch christliche Werte.
Der neue Text kann es nicht gewesen sein, der die Empörung verursacht hat. Vielmehr ist es das Ansinnen selber beziehungsweise die Veränderung als solche. Der Text bietet allerdings eine Angriffsfläche: In ihm findet keine Anrufung Gottes statt. Das bringt einige der zumeist weitgehend säkularisierten Eidgenossen in Rage, wird als unchristlich und womöglich als Konzession an die muslimische Einwanderung missverstanden, als ob Muslime nicht den gleichen Gott über sich sähen.
In der Tat «fehlt» im neuen Vorschlag der Aufruf zum Gebet und die zweifache Verschmelzung von Gott und Vaterland. Im Gegenzug sollte man sich daran erinnern, dass die angerufenen Werte (Solidarität, Frieden et cetera) auch christliche Werte sind.
Nicht verwunderlich, dass von der Seite Sperrfeuer einsetzte, die bereits 1999 gegen die Reform der Bundesverfassung war. Leute, die permanent selbsternannt die Nation und mit ihr gleich das Abendland vor dem Untergang bewahren wollen und dabei die Schweiz spalten, warfen der SGG vor, ohne Mandat zu handeln, Geld (das kein Steuergeld ist) zu verschleudern und Zwietracht zu säen. Zur Abstrafung, so ein ernst gemeinter Vorschlag, soll der SGG sogar das Rütli entzogen werden, das sie seit über 150 Jahren treuhänderisch verwaltet.
In den meisten Gemeinden dürfte die Landeshymne in der bestehenden Version in den vaterländischen Himmel gestiegen sein.
Kurios, aber ebenfalls nicht verwunderlich, dass der SVP-Nationalrat und «Weltwoche»-Redaktor P.K. aus Nidwalden in dieses Horn stösst, obwohl er als Historiker wissen müsste, dass es die SGG gewesen ist, die den Kauf des Rütli ermöglichte, es dem Bundesrat schenkte und sich von diesem eben zur Pflege gleichsam zurückgeben liess. P.K., der sich bereits voriges Jahr wie ein Winkelried in die feindlichen Lanzen geworfen hatte, mit denen das überholte Marignano-Bild infrage gestellt worden war, er warf der SGG nichts weniger als Demontage der Schweiz vor. Doch ohne die Aktion der SGG vor über 150 Jahren hätten wir jetzt auf dem Rütli ein Resort mit Minigolf und Rodelbahn.
In den meisten der rund 2300 Gemeinden dürfte, wenn überhaupt, die Landeshymne in der bestehenden Version in den vaterländischen Himmel gestiegen sein. In der Bundeshauptstadt, die auch eine Gemeinde wie jede andere ist, gab es zwei Strophen «Trittst im Morgenrot daher» und als dritte Strophe neu «Weisses Kreuz auf rotem Grund». Im zürcherischen Hombrechtikon ist das Neue nach vier alten Strophen zum Zug gekommen.
Auf dem Rütli hatten die Gäste die alte Version in den vier Landessprachen anzustimmen, bevor der Schweizer Jugendchor die neue Version vortrug. Deren Aufnahme war gemäss «Bote der Urschweiz» bei den 1400 Gästen freundlich: «Der Text gefiel durchaus, der Applaus war recht grosszügig und niemand fühlte sich bedrängt, man hörte einfach mal zu.»
Die Hymne ist nichts Selbstverständliches, von der Geschichte einfach Gegebenes.
Im sankt-gallischen Uzwil aber liess es sich der CVP-Regierungsrat B.W. nicht nehmen, seine Festansprache mit abwertenden Bemerkungen über die neue Landeshymne zu garnieren. Und auf dem Bruderholz in Basel? Der für die Feier verantwortliche Vorstand diskutierte die Frage und beschloss, einzig die «offizielle Version» singen zu lassen, nicht aufgrund einer inhaltlichen Beurteilung, sondern aus formellen Gründen. Ein Engagement für die neue Variante, so die Bedenken, hätte als Provokation oder Zwängerei empfunden werden können.
Die Schweizer Landeshymne hat bereits eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Da gibt es die Variante des lange Zeit populärsten «Rufst du, mein Vaterland», sodann das in jüngerer Zeit vor allem von den Rechtsextremen gesungene «Heil dir, Helvetia» und das jetzige «Morgenrot» und «Strahlenmeer».
Jedenfalls ist die Hymne nichts Selbstverständliches, von der Geschichte einfach Gegebenes. Erst spät, 1961, und zunächst zögernd als «befristeter Versuch» beschloss der Bundesrat, welche Variante die offizielle, das heisst in seinem Zuständigkeitsbereich (in der Armee und bei Staatsempfängen) und wohl auch in der Welt des Sports zu spielende sei. Zuvor waren die vielen und wichtigen Gesangsvereine zu konsultieren.
Eine Hymne vom Stammtisch
H.S., der im Appenzellischen wohnhafte Vizedirektor des Gewerbeverbandes und ehemaliger Unternehmensberater rückt die Initiative der SGG in die Nähe des Mafiösen, bezeichnet sie als arrogante Aktion eines privaten Vereins. Solche scharfen und überrissenen Reaktionen sind symptomatisch für die Exponenten des rechtsnationalen Milieus, die selber als private Akteure in öffentlichen Fragen weit arroganter auftreten als die attackierte SGG, die ihren Vorschlag in einem sehr breit abgestützten, sozusagen demokratischen Prozess entwickelt hat.
In den vergangenen Jahren sind, weil die offizielle Hymne offenbar zu wenig befriedigt, zahlreiche private Verbesserungsvorschläge vorgelegt worden. In der Regel von Printmedien oder Wirtschaftsunternehmen, die sich davon einen PR-Effekt versprachen.
Dazu nur ein Beispiel: 1998 – man feierte gerade 150 Jahre Bundesstaat – lancierte eine kleine Stammtischrunde im Wirtshaus Winkelried von Wettingen AG eine neue Hymne. Gesponsert war die Aktion vom Stumpenfabrikanten Heinrich Villiger (Bruder des damaligen Bundesrats). Unser Mafia-Jäger aus dem Appenzellischen hätte gegen eine solche Aktion keinen Schuss abgegeben.
Warum nicht nur eine Melodie?
Bei der derzeitigen Hochkonjunktur der Volksinitiativen könnte man – wie zur Rettung des Bankgeheimnisses auch zur Rettung der im Moment geltenden Landeshymne – eine Unterschriftensammlung lancieren. Ein solches «Gottesurteil» könnte allerdings auch eine Verarmung bedeuten, denn die ewigen Diskussionen um die richtige und beste Landeshymne gehören so sehr zum Nationalfeiertag wie das 1.-August-Feuer.
Es gäbe ja auch die Lösung, wie es Spanien tut, auf jeglichen Text zu verzichten, sich mit der Melodie zu begnügen. Das wäre für einige Spieler der Fussball-Nationalmannschaft eine Erleichterung – und ist beim Hissen der Olympiafahnen für andere Sportarten gang und gäbe.
Harry Ziegler, Chefredaktor der «Zuger Zeitung», hat sich ebenfalls mit der wichtigen Hymnenfrage befasst und ist zu folgendem salomonischen Urteil gekommen: Ihm ist es völlig egal, ob das «Dahertreten im Morgenrot» oder das «Weisse Kreuz auf rotem Grund» zum Zug kommt. Hauptsache sei, dass an den kommenden Spielen von Rio die Hymnenmelodie mindestens fünfmal zu hören sei.