Mussie Zerai betreut als Pfarrer eritreische Katholiken in der Schweiz. Doch bevor er sich um ihr Seelenheil kümmert, rettet er seinen Landsleuten oftmals Leib und Leben.
Sein Mobiltelefon hat er in der Sakristei gelassen. Ein Helfer holt ihn, wenn ein Notruf hereinkommt. Pfarrer Mussie Zerai steht an diesem Samstagmorgen vor dem Altar im Halbschatten: ein dunkelhäutiger, bärtiger Mann in einer Soutane und einem knöchellangen Umhang aus goldfarbenem Brokat mit dem weissen Käppi auf dem Kopf, das christliche Priester in Eritrea während der Messe tragen.
Er betet auf Geez, der altäthiopischen Liturgiesprache. Sein Bass erfüllt den Raum der Kirche St. Josef in Solothurn. Dann stimmt er den Liturgiegesang Ziema an, seine Gemeinde fällt mit ein. Die Morgensonne taucht in dem Moment das Kruzifix an der Rückwand des Chors in ein strahlend helles Licht. Das dürfte Zerai gefallen.
Lebensretter am Satellitentelefon
In der zweiten Bank sitzt ein Mann mit blauer Windjacke und den harten Gesichtszügen eines Menschen, der viel erlebt hat. Er stellt sich später als Jacob vor, ist 29 Jahre alt und guter Stimmung. Fast sieben Monate nach seiner Rettung begegnet er heute zum ersten Mal seinem Lebensretter.
Zerais markanten Bass hatte er bereits am 28. März kurz vor sechs Uhr aus dem Satellitentelefon dröhnen hören. Zerai sagte: «Bleibt ruhig, Hilfe kommt. Bleibt ruhig.»
Jacob trieb damals mit 300 anderen Flüchtlingen in einem alten Kahn auf dem Mittelmeer, der Motor war kaputt. Sie sassen Schulter an Schulter, dichtgedrängt. Es roch nach Angst. Jacob fürchtete die Rückschaffung nach Libyen. Er war 28 Tage im Lastwagen durch die Sahara gefahren und fast verdurstet, hatte in acht Monaten den Sudan durchquert und das Vielfache eines Flugtickets an die Schlepper bezahlt.
Er hatte keine andere Wahl, nachdem er nach drei Jahren Haft und Folter aus einem Gefängnis in Eritrea über die Grenze geflohen war. Zuvor war er als Soldat aus der Kaserne weggelaufen, aber erwischt worden. Human Rights Watch wirft dem diktatorischen Regime von Isayas Afewerki schwere Menschenrechtsverletzungen vor. Junge Männer werden für unbeschränkte Zeit zum Militärdienst gezwungen.
Hilferufe im EU-Parlament
An manchen Tagen läutet Zerais Mobiltelefon ohne Unterbruch. Er erhält Notrufe, wenn er gerade ein Kind tauft oder seine Gemeinden in Lugano, Genf oder Basel besucht. Seit Oktober 2011 betreut er im Auftrag des Vatikans die 3600 eritreischen Katholiken in der Schweiz.
Im Oktober erreichte ihn ein Hilferuf, als er als Vertreter der Flüchtlingsorganisation Habeshia in Brüssel mit EU-Parlamentariern über Einwanderungspolitik sprach. Er sagte «Sorry, one business call», stürmte aus den Saal. Nach ein paar Minuten kehrte er zurück, als wäre nichts gewesen.
Über 5000 Flüchtlinge in Seenot hat der 39-jährige Pfarrer bisher gerettet, sagt die italienische Küstenwache. Bis zu 3000 Migranten ertranken laut Flüchtlingsorganisationen jedoch allein in diesem Jahr.
Zerai hinterliess seine Nummer Freunden in Eritreas Hauptstadt Asmara, als er 2003 seine Grossmutter ein letztes Mal besuchte. Sie hatte ihn und die sieben Geschwister aufgezogen, nachdem seine Mutter gestorben und der Vater vom Geheimdienst verschleppt worden war.
Sie hat ihm auch den Glauben mitgegeben. Mit 16 ging er nach Rom, um Pfarrer zu werden. Er studierte Theologie, liess sich 2010 zum Priester weihen. Bald nach der Rückkehr nach Italien erhielt Zerai erste Anrufe von Eritreern, die im Sudan, in Ägypten oder Libyen in Schwierigkeiten steckten. Seine Nummer geht heute unter Flüchtlingen von Hand zu Hand.
Die Fähigkeit ungerührt zu bleiben, ist Zerais grösstes Kapital.
Kurz vor vier läutet sein Handy, die Nummer eines Satellitentelefons. Zerai sagt «Selam» und wirkt auf einen Schlag hoch konzentriert. Ein junger Mann namens Amanuel ruft aus Libyen an. Eine Miliz hält in einer ehemaligen Schule 400 Flüchtlinge aus Eritrea gefangen, darunter 20 Kinder. In der Nacht konnte eine Gruppe fliehen. Am Morgen nahmen die Milizionäre Rache, schlugen Gefangene, zündeten ihre Habe an. Die Miliz will die Flüchtlinge als Sklavenarbeiter an Menschenhändler verkaufen.
Zerai fragt in aller Seelenruhe nach: «Misrata? Tote?» Er sagt, er werde am Abend die italienische Botschaft in Tripolis anrufen. Sie soll die lokalen Autoritäten kontaktieren, damit diese Druck auf die Miliz ausüben.
Was ihn bewegt, behält er für sich
Tod und Folter bringen Zerai nicht aus der Ruhe. Das fiel seiner Grossmutter schon früh auf: Ein naher Verwandter war in Asmara gestorben, doch Mussie zeigte als einziges Kind der Familie keine Gefühlsregung.
Die Fähigkeit, ungerührt zu bleiben, ist heute sein grösstes Kapital. Egal, ob er Notrufe von Schiffbrüchigen entgegennimmt oder dem Papst am Rande einer Konferenz im Vatikan die Lage der Migranten erklärt – Zerai bleibt äusserlich stets unberührt, besonnen und bescheiden. Was ihn bewegt, behält er für sich.
So wählte er am 28. März 2014 nach dem Anruf von Jacobs Boot die gespeicherten Nummern der italienischen Seenotzentrale und der Küstenwache. Ein Hubschrauber entdeckte das Boot am Abend. Um 7 Uhr morgens nahm ein Rettungsschiff die 345 Flüchtlinge auf, brachte sie nach Sizilien.
Twittern in der Pause
Solche Rettungsaktionen müssten nicht sein, sagt Zerai, wenn die EU von ihrer Abschottungspolitik abrücken würde: «Die EU steckt viel Energie in den Ausbau der Festung Europa, tut aber wenig, um menschliche Tragödien zu verhindern und die Fluchtursachen zu bekämpfen.» Z
erai fordert, die EU müsse sich mehr um eritreische Flüchtlinge in Nachbarländern wie Äthiopien kümmern, bevor diese nach Europa aufbrechen. Die EU müsse ihnen die Chance zur legalen Einwanderung geben, etwa, indem sie ihre Botschaften in Afrika für Verfolgte öffne. Dann müssten diese sich nicht mehr den Schleppern ausliefern und eine riskante Reise wagen, um auf europäischem Boden einen Antrag auf Asyl stellen zu können.
Wir sitzen im Zug. Zerai will nach Hause in sein Zimmer in einer Pfarrei bei Olten. Er muss für morgen die Gottesdienste in Bern und Luzern vorbereiten. Nächste Woche reist er nach Rom.
Vor Kurzem war er auf der Insel Lampedusa vor Sizilien. Er traf Angehörige der 366 Opfer des Schiffsunglücks vom Oktober 2013, hielt die Gedenkmesse. In den Pausen twittert er per Natel News zur Lage der afrikanischen Migranten, postet Fotos auf Facebook, gibt Interviews. Er begreift sein Engagement als christlichen Dienst: «Ich tue bloss, was ich kann, auch wenn es nur ein Tropfen im Ozean des Elends ist. Den Rest überlasse ich Gott.»