Wenn Kinder Fragen stellen

Die schweizweite Aufregung über das sexualpädagogische Konzept für Basels Schulen wurde hauptsächlich durch Falsch­informationen ausgelöst. Und rechtskonservative Kreise basteln daraus eine Volksinitiative.

Wenn Mann und Frau miteinander schlafen… (Bild: Die Künstler möchten anonym bleiben, nur soviel sei verraten: Es handelt sich um zwei Mädchen (7 und 10) und einen Buben (13).)

Die schweizweite Aufregung über das sexualpädagogische Konzept für Basels Schulen wurde durch Falsch­informationen ausgelöst. Und rechtskonservative Kreise basteln daraus eine Volksinitiative.

Die Lancierung einer Volksinitiative ist wohl noch nie in der Geschichte der schweizerischen Demokratie so gründlich missglückt wie die gegen die «Sexualisierung in Kindergarten und Primarschule». Dass mit Benjamin Spühler ausgerechnet, wie vor einigen Tagen bekannt wurde, ein verurteilter Sexualstraftäter an vorderster Front für die Initiative kämpfte, wirkt auf die Öffentlichkeit etwa so, wie wenn sich ein hungriger Wolf zum Schafehüten empfohlen hätte. Logischerweise gab das Initiativkomitee umgehend die Trennung von Spühler bekannt; und auf der Website des von ihm gegründeten Basler Elternkomitees heisst es nun, das Komitee werde nicht mehr weitergeführt.

Viele Missverständnisse

Der Kampf jedoch soll weitergehen, darüber lassen die Verfasser dieser Meldung keinen Zweifel. Wer das nach Spühlers Ausscheiden ist, ist allerdings unklar. Die Website gibt darüber keine Auskunft, es gibt kein sonst übliches «wer wir sind». Eng verbunden fühlt man sich offensichtlich mit dem am äussersten rechten Rand politisierenden SVP-Nationalrat Ulrich Schlüer, dem Vater der Petition «Gegen die Sexualisierung der Volksschule».

So ist auf der Front immer noch ein Artikel vom September 2011 aufgeschaltet, in dem Schlüer sich über die Basler Sexboxen empört. Und dann kann man sich durch diverse Artikel und Bilder durchklicken, mit denen bewiesen werden soll, mit welchem Material das Basler Erziehungsdepartement unsere Kinder verderben will. Pornografisches Material, wie die rechten Kinderschützer feststellen. Da hat sich jemand zum Beispiel die Mühe gemacht, aus einem über 130-seitigen Bilderbuch, das sich mit den Themen Mut, Körper, Gefühle und Familie befasst, drei einzelne Bilder aus dem Kapitel «Wo kommst du her?» herauszupicken. So, völlig aus dem Zusammenhang gerissen, könnten diese Illustrationen, die Mama und Papa beim Geschlechtsverkehr zeigen, tatsächlich Eltern verunsichern. Was wohl auch Zweck der Übung dieses Elternkomitees ist.

Doch erstens war das Buch, wie Volksschulleiter Pierre Felder sagt, einzig als Unterrichtsmittel für die Lehrpersonen und nie für die den Kindern zugänglichen Bücherkisten vorgesehen, und zweitens ist es trotzdem aus dem sogenannten «Sexkoffer» entfernt worden. «Um Missverständisse vorzubeugen», sagt Felder. Doch Missverständnisse gibt es dank reisserischen Presseberichten bereits viele, einige davon sind offenbar ganz schwer auszuräumen. So geistert immer noch, auch nach unzähligen Korrekturversuchen in weiteren Medienberichten, die Vorstellung herum, dass Kindergartenkinder und Erstklässler mit Plüschvaginas und Holzpenissen aufgeklärt würden. Das ist kompletter Unsinn.

SVP und Abtreibungsgegner

Einzig bei den Unterrichtsmaterialien für die Oberstufen-Schüler sind die nachgebildeten Geschlechtsteile dabei. Aber auch dort kommen sie nur im Kontext einer entsprechenden Unterrichtsstunde zum Einsatz, sie sind weder zum Rumspielen da, noch dienen sie als Schulzimmerdekoration. Sie verstünden die Aufregung der Erwachsenen wegen dieser Teile nicht, meinten die Schüler einer OS-Klasse, als ich sie vor einiger Zeit dazu befragte.

Einer der Kämpfer «zum Schutz vor Sexualisierung in Kindergarten und Primarschule» ist neben einigen SVP-Politikern auch Dominik Müggler, der als Präsident der Stiftung «Schweizerische Hilfe für Mutter und Kind» vor einigen Jahren mit dem Gegenvorschlag eines Abtreibungsverbots die Fristenlösung verhindern wollte. Er stört sich wie seine Mitstreiter vor allem daran, dass im Kindergarten und in den ersten zwei Jahren der Primarschule obligatorischer Sexualkundeunterricht erteilt werden soll.

Auf freiwilliger Basis, ab dem vollendeten 9. Altersjahr, könne man diesen Unterricht in der Schule akzeptieren, sagt er. Aber ein Obligatorium auf Primarstufe sei inakzeptabel, «damit hat das Erziehungsdepartement den Bogen überspannt, das verstösst gegen die Grundrechte der Eltern und Kinder und ist deshalb illegal».

Das sieht Volksschulleiter Felder anders: «Die Gesundheitserziehung und damit auch eine altersgerechte Sexualerziehung gehört zum gesetzlichen Auftrag der Schule und somit zur Schulpflicht.» Nach den Übergriffen von Schülern auf eine Schülerin vor ein paar Jahren in Zürich-Seebach, sagt Felder, sei die Schule nach ihrer Verantwortung gefragt worden. «Auch von der Öffentlichkeit.»

Daraufhin habe man die teilweise veralteten Lehrpläne durch einen Leitfaden ergänzt und ihn den einzelnen Schulstufen angepasst. «Altersgerecht», betont Felder nochmals. Es gehe denn auch im Kindergarten nicht, wie stets kolportiert, um einen systematischen Aufklärungs- oder Sexualkundeunterricht, sondern darum, das Thema aufzugreifen, «wenn es sich aus einer Situation heraus ergibt». Das sei bisher so gehandhabt worden und gelte weiterhin.

Kein Aufklärungsunterricht

Astride Wüthrich, seit 24 Jahren Kindergärtnerin und inzwischen Schulleiterin, sagt denn auch klipp und klar: «Da ist kein Unterschied zum bisherigen Kindergartenalltag und zu dem im Leitfaden formulierten – es wird keinen Aufklärungsunterricht im Kindergarten geben.» Nach wie vor werde das Thema situativ aufgenommen – dann, wenn Kinder Fragen stellen. Wie sie das schon vor 20 Jahren getan haben. «Weil beispielsweise eine der Mütter schwanger ist oder ein Buschi zur Welt gekommen ist oder wenn ein Kind einem anderen zu nahe getreten ist.» Dann werde man «in geführten Sequenzen» im Kreis mit Geschichten und Spielen auf die Fragen eingehen.

Auch Eltern selbst würden sich hin und wieder erkundigen, wie sie auf Fragen ihres Kindes reagieren können. Dass nun mit dem sogenannten Sexkoffer Unterrichtsmaterialien zur Verfügung stehen, auf die sie bei Bedarf zurückgreifen kann – aber nicht muss – findet Wüthrich praktisch. Nicht mehr und nicht weniger.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 27.04.12

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