Wenn Papa ins Bodenlose stürzt

Kinder psychisch kranker Eltern brauchen rasch Hilfe. In Basel ist geplant, ein standardisiertes Hilfsprogramm für die Betroffenen zu etablieren.

Wenn Papa seinen grünen Mantel anhat, wird er komisch: Illustration aus «Fufu und der grüne Mantel». (Bild: Isabel Fritz)

Kinder psychisch kranker Eltern brauchen rasch Hilfe. In Basel ist geplant, ein standardisiertes Hilfsprogramm für die Betroffenen zu etablieren.

Alles läuft rund. Bis zu dem Tag, als Papa plötzlich diesen komischen grünen Mantel trägt. Von jetzt an ist alles anders. Vollkommen verkehrt. So beschreibt die Broschüre «Fufu und der grüne Mantel» (Theraplus, Basel) für Kinder psychisch kranker Eltern, wie das ist, wenn ein Elternteil plötzlich ganz merkwürdige Sachen macht. Der Vater, im Buch ein Fuchs, brummt dann zum Beispiel sinnloses Zeug, brüllt plötzlich zusammenhanglos oder läuft in seinem grünen Mantel und einer Einkaufstüte auf dem Kopf rückwärts im Garten umher. Mama Fuchs sagt dann: «Papa braucht Ruhe.» Die Nachbarin sagt: «Papa Fuchs hat nicht mehr alle Tassen im Schrank.»

So humor- und liebevoll es diese kindgerechte Aufbereitung beschreibt – der Alltag mit einem psychisch Kranken ist kein Zuckerschlecken. Sein Verhalten macht selbst Erwachsene hilflos. Um wie viel bedrohlicher müssen solche Wesensveränderungen auf die Kinder der Betroffenen wirken? In der Schweiz trifft das etwa 50 000 Kinder, die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich um einiges darüber.

Das Ende der Kindheit

Erst seit einigen Jahren wird den Kindern der Kranken mehr Aufmerksamkeit geschenkt. In ihrer Studie «Hauptsache gesund?» (Institut für soziale Arbeit, Münster, 2002) lässt die deutsche Forscherin Sabine Wagenblass erwachsene Kinder auf ihre Erlebnisse mit ihren psychisch erkrankten Eltern zurückblicken. «Wir mussten uns ganz alleine fertig machen zur Schule und dann auch für Lebensmittel sorgen», erzählt etwa Maria. Die Mutter sei absolut hilflos gewesen. «Aber damals habe ich das nicht empfunden, ich dachte, sie kümmert sich nicht.» An das Einsetzen der Krankheit erinnert Maria sich noch genau: «An dem Tag war unsere Kindheit vorbei.»

In den meisten Familien gibt es eine stillschweigende Abmachung: Niemand darf etwas mitkriegen. Jedes Wort nach aussen über die Situation erscheint den Kindern als Verrat an der Familie; so ist es für sie fast unmöglich, sich jemandem anzuvertrauen.

Frühe Hilfe von aussen könnte die Kinder entlasten und ihnen die Chance auf ein eigenes Leben geben. Doch oft nehmen Eltern Unterstützungsangebote nicht an, sagt Marc Schmid, leitender Psychologe an der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPK). Viele wissen nichts davon, für manche sind diese zu teuer, und oft kennen die Betroffenen die Möglichkeiten der finanziellen Unterstützung nicht. Nicht selten haben sie auch Angst. Vor den Behörden, vor einem Eingriff in ihre Familie. Wenn man sich rechtzeitig freiwillig um Hilfe bemühe, sei diese Sorge jedoch völlig unbegründet, sagt Familientherapeut Schmid. «Wenn man jedoch zu lange wartet, bis die Situation eskaliert, kann es schwierig werden», sagt er. Dann könne es dazu kommen, dass ein Kind aus der Familie herausgenommen werden müsse. Zumindest vorübergehend.

Wichtig ist eine gemeinsame Sprache in der Familie.

Wie er einem Kind zu verstehen hilft, was mit seiner Mama los ist? «Ich würde nicht sagen, du hast eine depressive Mutter», erklärt Schmid. Eher sollte man die Kinder nach ihrer Wahrnehmung fragen: ob die Mutter morgens schlecht aufstehen kann, oft traurig ist oder weint. Und dann erklären, dass es vielen Menschen so geht, dass es eine Krankheit ist, die einen Namen hat.

Wichtig sei auch eine gemeinsame Sprache in der Familie. Dass darüber geredet wird, was los ist. Sonst glauben die Kinder, sie hätten etwas falsch gemacht. «Meine Mama ist traurig, weil ich eine schlechte Note geschrieben habe», lautet die Erklärung in den kleinen Köpfen. Oder: «Weil ich das Glas umgeworfen habe, kann Mama heute nicht aufstehen.»

Ein sehr gutes Instrument sind sogenannte Sicherheitspläne. In diesen legen die Eltern fest, was passieren soll, wenn eine akute Phase eintritt – zum Beispiel, wohin die Kinder in solch einem Fall gehen können. Man versucht, Ressourcen im Umfeld der Familie zu aktivieren. Vielleicht gehen Mitarbeiter zu einem gemeinsamen Gespräch mit in die Schule oder zu den Nachbarn, wenn die Eltern das wollen. Manchmal geht ein Team aus Pädagogen und Psychologen auch mit ins Umfeld der Familie und gibt praxisnahe Tipps.

Standardisiertes Programm

Fast immer gibt es Probleme in der Interaktion zwischen Eltern und Kindern. Prinzipiell seien die Fehler dieselben, die auch gesunde Väter und Mütter machten, sagt Marc Schmid. Durch gemeinsames Ansehen von Videoaufnahmen könne man den Eltern zeigen, wo es hapert und was sie stattdessen machen können. «Vielleicht ist die Essenssituation schwierig. Die Kinder streiten sich, während die Mutter kocht. Die ist schon gestresst durchs Kochen. Wenn das Essen auf dem Tisch steht, nörgeln die Kinder vielleicht noch, dass es ihnen nicht schmeckt… Das i-Tüpfelchen, das die Situation kippen lässt.»

In diesem Fall rate er, die Kinder schon beim Abschmecken einzubeziehen, sagt Schmid. Ein anderes Verhalten von Eltern, das nicht zum Ziel führe: «Man ruft dem Kind zu: ‚Wir müssen gleich gehen!‘, doch dieses ist vertieft in sein Spiel. Das können Sie dann genauso gut lassen», meint er. Spielen sei für Kinder ungefähr so, wie wenn Erwachsene konzentriert arbeiten. Da würden wir auch nicht richtig zuhören. «Im Video können Eltern sehen, wann Dinge gut laufen: Wenn man auf Augenhöhe geht, auf das Kind eingeht, Blickkontakt hält.»

In Basel ist geplant, ein standardisiertes Programm für psychisch kranke Eltern und ihre Kinder zu etablieren. Die Finanzierung des Projektes teilen sich die Krankenkassen und die Kinder- und Jugendhilfe. Dabei analysiert man mit den Familien die Kernprobleme und kann neun Monate lang intensiv mit ihnen daran arbeiten.

Kinder überforderter Eltern erfahren früh, dass ihre Bedürfnisse nicht erfüllt werden.

Falls nötig, kann sich eine Traumatherapie anschliessen, zum Beispiel wenn Kinder vernachlässigt oder misshandelt wurden. Hierfür haben Kinder mit psychisch kranken Eltern ein hohes Risiko. Sehr hilfreich ist in solchen Fällen ein therapeutischer Brief, in dem die Eltern ihr Kind um Verzeihung bitten.

Es gibt auch sehr viele liebevolle Eltern, die sich Sorgen um ihre Kinder machen, überfordert sind und stets ein schlechtes Gewissen haben. Doch ein Kleinkind mit einer Mutter, die mit sich selbst beschäftigt, vielleicht depressiv ist, erfährt früh, dass seine Bedürfnisse nicht erfüllt werden; es fehlen Trost und Ermutigung. Aus der Kinderlogik heraus wird das dann so verstanden: Ich bin nicht wichtig, ich bin es nicht wert. Bei Psychosen oder anderen mit Wahn verbundenen Erkrankungen erleben die Kinder einen grossen Konflikt zwischen dem, was sie selbst wahrnehmen, und der abstrusen Realität des erkrankten Familienmitgliedes.

Auch die Angst um den erkrankten Elternteil kann die Kindheit überschatten. Nicht ohne Grund: Suizidhandlungen oder -androhungen sind bei psychischen Erkrankungen nicht selten. Bei den betroffenen Kindern kann dies zu traumatischen Ängsten führen. Eine erwachsene Tochter erzählt über die kranke Mutter: «Ich habe sie jahrelang an dem Seil hängen sehen, in den Balken. Immer wenn ich von der Schule kam, wenn ich nicht sofort wusste, wo sie ist, dachte ich, jetzt, heute ist es passiert.»

Besonders ab dem Schulkindalter besteht die Gefahr der Parentifizierung – die Kinder übernehmen selbst die Rolle der Versorger: Sie kochen, kaufen selbstständig ein, kümmern sich um jüngere Geschwister oder vereinbaren Arzttermine für ihre Eltern. In einem solchen Fall sollten sie dafür auch die gebührende Anerkennung bekommen, betont Schmid.

«Werde ich auch krank?»

Oft leiden die Kinder psychisch kranker Eltern auch noch als Erwachsene unter dem Erlebten. Es fällt ihnen schwer, sich von ihren kranken Eltern zu lösen. Auf der einen Seite froh, dem Desaster zu Hause entflohen zu sein, haben sie auf der anderen Seite das Gefühl, sie im Stich zu lassen. Zwar kommt auch oft Wut auf das erkrankte Elternteil hoch, doch das löst sogleich Schuldgefühle aus; die entstehenden Aggressionen richten die meisten gegen sich selbst.

Ein weiteres Problem der Grossgewordenen: Sie haben nicht gelernt, anderen Grenzen zu setzen, sondern stellen ihre Bedürfnisse hinter die anderer Menschen, die sie lieben. Und wie bereits als Kinder wollen sie ihre Mitmenschen schonen und nicht mit ihren Problemen belasten.

Für junge Erwachsene wird irgendwann die Frage vordringlich: «Werde ich auch krank?» Tatsächlich gibt es ein gewisses Risiko: Über 35 Prozent der Nachkommen von psychisch kranken Eltern erkranken später selbst. Ein Grund sind die emotionale Vernachlässigung und Überforderung im Kindesalter; auch eine genetische Disposition scheint zu bestehen. Doch unumstösslich ist das nicht. Eher wie ein Glas, das bei anderen vielleicht am Anfang leer und bei ihnen schon zu einem Drittel voll ist.

Neben all den negativen Folgen haben die Kinder meist auch bewundernswerte Eigenschaften erworben: Sie haben gelernt, mit extremen Situationen umzugehen, dagegen sind die kleinen Krisen im Alltag ein Klacks. Sie sind extrem selbstständig und zuverlässig, haben ein grosses Verantwortungsgefühl. Und sie verfügen über ein hohes Einfühlungsvermögen.

Entscheidend für eine positive Entwicklung sei aber, dass die Kinder früh Entlastung erfahren, sagt Marc Schmid. Dann können sie aufgefangen werden, bevor auch sie ins Bodenlose fallen.

_

Adressen:

Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel, Forschungsabteilung/Liaisonbereich, Leitung Marc Schmid, Schanzenstrasse 13, Basel, Tel. 061 265 89 74, www.upkbs.ch


Psychiatrische Universitäts-Poliklinik PUP, Petersgraben 4, Basel, Tel. 061 265 51 17 (ausserhalb Bürozeiten 061 265 25 25)

Kriseninterventionsstation im Kantonsspital Basel, Petersgraben 4, Basel, Tel. 061 265 25 25



Buchtipps:

– Broschüre «Fufu und der grüne Mantel», 1. Auflage 2004, Online-Version 2008, Herausgeberin: Theraplus, gratis erhältlich unter www.psychosis.ch/publikationen.htm

– Schirin Homeier: «Traurige Sonnentage. Illustriertes Kinderfachbuch für Kinder psychisch kranker Eltern und deren Bezugspersonen», Mabuse Verlag 2006

– Erdmute von Mosch: «Mamas Monster. Was ist nur mit Mama los?», Balance Verlag 2011, für Kinder ab 3 Jahren

– Kerstin Trostmann / Rolf Jahn: ;Der beste Vater der Welt», Balance Verlag 2010, für Kinder ab 3 Jahren

– Susanne Wunderer: «Warum ist Mama traurig? Ein Vorlesebuch für Kinder mit einem psychisch erkrankten Elternteil», Mabuse-Verlag 2010, für Kinder ab 2 Jahren

Nächster Artikel