Wer aus Ägypten flieht, ist in der Regel ein Kind

Nicht viele Ägypter fliehen nach Europa, aber kein Land hat einen so hohen Anteil an unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Sie stammen aus den ärmsten Regionen. Ihr Ziel ist fast immer Italien.

epa03269703 Children from South Sudan hold their hands up against a bus window where an Israeli aid worker had written 'I Love U' on the window as dozens of South Sudanese migrants from the Tel Aviv area are deported from Israel, 17 June 2012. Israel is deporting hundreds of South Sudanese on a charter flight later in the day to Juba, South Sudan. Israeli Prime Minister Benjamin Netanyahu says that the deportations will be done in a 'humanely' manner. Israel has over 60,000 African migrants, many of whom claim refugee status, and on a day last week when 100 African were deported it was announced 450 had arrived across the porous land border with Egypt. EPA/JIM HOLLANDER

(Bild: JIM HOLLANDER)

Nicht viele Ägypter fliehen nach Europa, aber kein Land hat einen so hohen Anteil an unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Sie stammen aus den ärmsten Regionen. Ihr Ziel ist fast immer Italien.

Aus Kafr al-Arab, einem kleinen Dorf im Nildelta, haben sich im April acht Schüler im Alter zwischen 14 und 16 Jahren zusammen auf den Weg nach Alexandria mit Ziel Italien gemacht. Von ihren Absichten haben ihre Angehörigen erst durch einen «Simsar» – einen Mittelsmann – erfahren.

Er klopfte bei den Familien an und sicherte sich die Unterschrift unter eine Schuld von 30’000 ägyptischen Pfund (rund 3000 Franken). «Wir haben alle eingewilligt, nachdem uns eine sichere Überfahrt über das Mittelmeer und Arbeitsmöglichkeiten im Ausland zugesichert worden waren», erklärte einer der Väter einer lokalen Zeitung.

Die Kinder als Ersatz für Erwachsene

Der Fall von Kafr al-Arab passt genau ins Muster, das die Internationale Organisation für Migration (IOM) kürzlich in einer Fallstudie festgehalten hat. Der Anteil von allein reisenden Kindern aus Ägypten ist in den letzten Jahren alarmierend gestiegen. Im vergangenen Jahr waren es bereits 1711 von 2650 Migranten, also 66 Prozent. Und der Trend geht weiter.

Allein im April 2016 sind 638 ägyptische Kinder in Italien gestrandet. Im August des letzten Jahres waren auf einem einzigen Boot, dessen Passagiere südlich von Kreta gerettet wurden, 132 ägyptische Jugendliche aufgegriffen worden. IOM-Experten haben sie interviewt und das Bild des Kinderschmuggels nachgezeichnet.

Flüchtlinge? Eigentlich nicht, aber…

Die Fluchtgründe sind bei den Jugendlichen nicht andere als bei den Erwachsenen. Wirtschaftliche Not und kaum Zugang zu Bildung sind in diesen armen Regionen die wichtigsten. Ägypter haben in Europa aber kaum Chancen, als Flüchtlinge anerkannt zu werden.

Für unbegleitete Jugendliche gibt es bessere Aussichten, insbesondere in Italien, das seit vielen Jahren das beliebteste Ziel in Europa für ägyptische Migranten ist. Dort gibt es inzwischen eine gut etablierte ägyptische Community.

Die Teenager werden nicht zurückgeschickt und können eine Schule besuchen. Bis sie 16 sind und zehn Schuljahre haben, dürfen sie nicht arbeiten. Als Erwachsene haben sie später die Möglichkeit, eine Aufenthaltsbewilligung für Studium oder Arbeit zu beantragen. Ihre Familie zu Hause kann damit auf Überweisungen hoffen, um die eigene finanzielle Lage zu verbessern.

Die Menschen-Schmuggler verlangen kein Geld im Voraus – aber Erfolgsprämien

Die geografische Lage Ägyptens macht das Nilland zu einer Drehscheibe des Menschenschmuggels, insbesondere für Menschen aus Ländern südlich der Sahara. Es gibt ein blühendes Schmuggelgeschäft mit Simsar (Mittelsmännern), die in der Regel bekannt sind. In Küstenstädten wie Alexandria oder Baltim werden Kinder von ihnen oft direkt angesprochen.

Sie veröffentlichen ihre Kontakte, Fahrpläne und Preise. Während die Erwachsenen meist im Voraus bezahlen, wird bei Kindern mit den Eltern oft ein Arrangement getroffen, bei dem der Preis nach der Ankunft fällig wird.

Die Jungs – Mädchen sind die Ausnahme – sind meist zwischen 14 und 17 Jahren alt, kommen vorwiegend aus dem Nildelta.

In der Untersuchung betraf dies 65 Prozent der Fälle, für 15 Prozent wurde in Italien eine Arbeit arrangiert, um mit dem Lohn die Kosten der Überfahrt abzustottern. Die Jungs – Mädchen sind die Ausnahme – sind meist zwischen 14 und 17 Jahren alt, kommen vorwiegend aus dem Nildelta, einige aus Minya und Fayyoum und fast immer aus ländlichen Gegenden, wo die soziale Mobilität schwach ist.

Ein guter Nährboden für das Schmuggelgeschäft ist die Krise in der Fischerei an den ägyptischen Küsten. Zehntausende haben in den letzten Jahren ihren Job verloren. Viele haben auf Menschenschmuggel umgesattelt und sind mit ihren Holzbooten Teil dieses Netzwerkes geworden.

Kinder aus diesen Regionen sind speziell anfällig. Sie können Schiffe reparieren und navigieren und werden für diese Dienste oft mit einer freien Überfahrt geködert. Auf der gefährlichen Reise sind Kinder besonders gefährdet. Sie riskieren schlecht behandelt, ausgenützt oder bestohlen zu werden, weil sie die Schwächsten sind und manchmal auch weniger bezahlen.

Die Milano-Strasse in der Oase

In einzelnen Dörfern, etwa in Tatoun in der Oase Fayoum, ist durch Erfolgsgeschichten ein eigentlicher Sog entstanden. Eine Milano-Strasse mit neuen grossen Häusern zeugt von erfolgreichen Beispielen und wie sich der Lebensstandard der Familie zu Hause verbessern kann. Auch die IOM hat in ihrer Studie festgestellt, dass zwei Drittel der jugendlichen Emigranten durch gleichaltrige Bekannte beeinflusst waren, die es nach Europa geschafft hatten.

Nach der Ankunft gaben dann 80 Prozent an, sie würden die gefährliche Mittelmeerpassage nicht wiederholen und 93 Prozent sagten, sie würden den Kindern zu Hause in ihrem Dorf abraten und ihnen empfehlen, legale Wege zu suchen. Aber sie selbst wären trotzdem gegangen, auch wenn ein Freund ihnen abgeraten hätte. Gegen die Wirkung von Erfolgsgeschichten verpuffen alle Warnungen.

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