Die Schweiz ist das Land mit dem weltgrössten Schützenfest. Und gleichzeitig müssen sich Sportschützen stets für ihr Hobby rechtfertigen. Warum Schiesssportler immer beim Küchenmesser landen – und wieso sie für das Sturmgewehr nur ein müdes Lächeln übrig haben.
Es ist ein warmer Frühlingstag. Die Schützen des Vereins Helvetia Basel absolvieren die Vorrunde der Basler Mannschaftsmeisterschaft im 50-Meter-Schiessen. Ausser Vogelgezwitscher und dem gelegentlichen dumpfen Ton des Kleinkalibergeschosses herrscht Stille in der Schiessanlage Au in Münchenstein. Die Ruhe, die die Schützen beim Zielen auf die Scheibe ausstrahlen, kommt beinahe der einer Zen-Meditation gleich. Ein krasser Gegensatz zu den Bildern, die die meisten Menschen mit dem Schiessen in Verbindung bringen.
Gerade wegen Assoziationen zu Krieg und Gewalt müssen junge Schützen wie Steven Bleuler im persönlichen Umfeld viel Aufklärungsarbeit leisten. «Wenn ich sage, dass ich Fussball spielen gehe, weiss jeder, was ich mache. Wenn ich aber sage, ich gehe Sportschiessen, schauen mich die Leute schräg an», berichtet der Pressesprecher des Sportschützenverbandes beider Basel. «Die Leute denken: Schiessen gleich Militär gleich Töten.»
Dann versucht der 24-Jährige zu erklären. Er erzählt, dass er auf Scheiben schiesst, in verschiedenen Stellungen – stehend, liegend, kniend: «Ich mache verschiedene Wettkämpfe, zum Beispiel sechzig Schüsse, zwanzig Schüsse und zehn Schüsse. Ich bin in einem Verein dabei. Es braucht viel, bis man versteht, was ich eigentlich mache.»
Das Küchenmesser-Gleichnis
Bleibt ein Gewehr aber nicht letztlich eine Waffe? Eine emotionale Frage. Wer mit einem Schützen über das Wesen seines Sportgeräts spricht, der landet deswegen unweigerlich beim Küchenmesser. Dass auch dieses in die falschen Händen geraten kann, lautet die beliebteste Rationalisierung unter Schützen.
Vielleicht hilft es darum, das Gewehr aus einer historischen Perspektive zu betrachten, um sich nicht in persönlichen Wertungen zu verlieren.
In der Alten Eidgenossenschaft wurde lange Zeit lediglich zur Jagd und an Schützenfesten geschossen. Bei diesen Volksritualen handelte es sich um Massenfeste, welche als Brücke zwischen Stadt, Land und den verschiedenen Konfessionen dienten.
Militärisch betrachtet, waren die Alten Eidgenossen auf Kurzdistanz spezialisierte, im Kampfrausch rasende Berserker. Erst als sich die Überlegenheit des militärischen Schiessens bei der Schlacht von Marignano zuungunsten der Eidgenossen auswirkte, wurde das Schiessen in der Schweiz ebenfalls militarisiert. Gegen den Widerstand der Bevölkerung ging mit dieser Militarisierung auch die Einführung der Uniform an Schützenfesten einher. Das alte Brauchtum wurde umfunktioniert.
Mit Napoleon wurde das Gewehr zum Symbol für Freiheitsliebe
Nach dem Ende der Alten Eidgenossenschaft 1798 aber fehlten die finanziellen Mittel für Schützenfeste. Als Napoleon die Schweiz einnahm, entwaffnete er zudem die Schweizer Bevölkerung, was ein weiterer Rückschlag für das Schützenwesen war.
Gleichzeitig aber etablierte sich das Schiessen in den Widerstandsgebieten gerade wegen des Einfalls der Franzosen als Symbol der Wehrhaftigkeit und der Freiheitsliebe. Dieser Gedanke wurde bei der Gründung des ersten eidgenössischen Schützenfestes im Jahr 1824 in Aarau weitergetragen.
190 Jahre später – die letzten 156 davon ohne Krieg, in den die Schweiz aktiv involviert war – sind die Schützenfeste wieder zu dem geworden, was sie ursprünglich waren: ein Volksfest.
Oft geht vergessen, wie athletisch Schützen sein müssen
Auch deswegen wirkt das Schiessen in gewissen Regionen der Schweiz beinahe wie ein Familienanlass. In dieser festlichen Tradition wiederum gerät oft in Vergessenheit, wie athletisch seriöse Sportschützen sein müssen.
«Ich will jetzt nichts gegen das Feldschiessen deponieren», hebt René Dietzler an. Und dann tut es der Vereinspräsident der Sportschützen Birseck halt doch irgendwie: «Es wird so hochgehalten, dass ich mich frage, was das soll.» Als anspruchsvollen sportlichen Anlass erachtet er ein Schützenfest jedenfalls nicht: «Die Mentalität ist: Ein Zweierli nehmen, es gemütlich haben, ein paarmal abdrücken, einen Kranz anhängen, es nochmals gemütlich haben und heimgehen.»
Nur wenige kennen die echten Herausforderungen des Schiesssports so gut wie der 67-jährige Dietzler. Seit 51 Jahren schiesst er bei den Sportschützen Birseck, 20 Mal wurde er zum Schweizer Meisterschützen erkoren, sieben Mal war er Mitglied der Schweizer Nationalmannschaft.
Den Körper trainieren, um einen starken Geist zu haben
An der Gruppenmeisterschaft der Elite in der Sportanlage Sichtern in Liestal erzählt Dietzler von seinen Erinnerungen an die Nationalmannschaftsvorbereitungen. Im Winter trainierte er jeweils mit den Fussballern, obwohl er selbst keiner war. Auch mit Kraft- und Ausdauertraining bereitete er sich auf die wärmeren Jahreszeiten vor. Die körperliche Fitness sollte vor allem der Psyche dienen.
«Im Wettkampf machen Konzentration und Nervenstärke 70 Prozent des ganzen Schiesssports aus», sagt Dietzler, «man muss mindestens das doppelte an Kraft erbringen können, die für einen Wettkampf nötig wäre. Wenn die Kraft schwindet, schwindet auch die Konzentration, und dann passieren unangenehme Folgefehler.» Und nein, Schützen und Aggressvität, das passe nicht zusammen: «Das Schiessen war für mich eine Lebensschule. Es ist nicht aggressiv wie etwa das Boxen, sondern ruhig und gezielt.»
Das Gespräch mit Dietzler wird von einem wiederholten, lauten und hallenden Ton begleitet. Etwa 100 Meter neben der Gruppenmeisterschaft im 50-Meter-Schiessen üben die Sturmgewehrschützen auf einem weiteren Schiessplatz der Anlage. Mit dabei ist Ueli Steiner, der Betriebsleiter der Schiesssportanlage Sichtern.
Bei der Begegnung mit einem Journalisten bemüht sich Steiner, seinen Sport so gründlich wie möglich zu erklären. Aus den Medien erlebte der Leiter der Anlage meistens negative Resonanz: «Der Schiesssport wird immer noch in Misskredit gezogen. Der Schweizerische Schiesssportverband ist der drittgrösste Sportverband der Schweiz, aber derjenige mit der schlechtesten Lobby», meint der 70-Jährige, der selbst seit 50 Jahren schiesst.
Der Fussballfan trägt seinen Schal – und der Sportschütze?
Um das negative Image zu bekämpfen, wurden über die Jahre verschiedene Dinge versucht. So wurde die Schiessanlage Sichtern bewusst zur Schiesssportanlage Sichtern umgetauft. Anstatt als grösstes Schützenfest der Welt würde Ueli Steiner das eidgenössische Feldschiessen lieber als grösstes Breitensportfest der Welt bezeichnet sehen.
Für ihn fehlt die Selbstverständlichkeit des Schiesssports: «Ich weiss auch nicht, warum man als Schütze nicht hinstehen und sagen kann: Ich bin ein Sportschütze. Ein Fussballfan zieht seinen Schal immer in der Stadt an, aber bei uns ist man immer so reserviert.»
Obwohl es beeindruckende Zahlen sind, die der Schweizerische Schiesssportverband ausweist, fehlt laut Bleuler der Nachwuchs. 175’000 Mitglieder hat der Verband, 65’000 davon sind lizenzierte Schützen. Doch den Vereinen droht eine Überalterung.
Wie alle Vereine, die auf ehrenamtliche Arbeit angewiesen sind, leiden auch die Schützen unter dem Gesellschaftswandel. «Die Leute bezahlen lieber Geld für ein Fitnessabo, dafür haben sie keine Verpflichtungen am Wochenende», lamentiert Bleuler, «aber genau auf solche Leute sind wir im Vereinsleben angewiesen, sonst sterben wir aus.» Derzeit haben die Schützenvereine der Region Basel 3800 Mitglieder.
Die Ballerspiele und die Realität
Anders als etwa König Fussball bietet das Schiessen als Breitensport kein Spektakel für den Zuschauer. Ein zusätzliches Problem, mit dem die Schützen kämpfen. Das Publikum kann sich kaum mit Athleten identifizieren, zumal Emotionen wie Wut oder Euphorie weniger intensiv ausfallen als zum Beispiel bei Mannschaftssportarten. So sind die Schützen auf Mundpropaganda angewiesen, um neue Mitglieder zu finden.
Wobei, ein Rekrutierungsfeld mit gewissem Spektakelfaktor gibt es: Gewaltspiele für Computer und Spielkonsolen. Auf Kinder, die sich wegen Ballergames zum Schiessen hingezogen fühlen, ist Steven Bleuler bereits sensibilisiert.
«Wenn ein Kind sagt, dass es ‹wie in diesen Games› schiessen will, dann gebe ich ihm die Chance, das Schiessen auszuprobieren, um zu zeigen, dass es eben nicht so ist wie in diesen Spielen», legt Bleuler seinen Umgang mit potenziellen Grenzfällen dar. «Wir merken sehr schnell, ob das Kind den Switch zwischen virtueller Welt und Realität machen kann. Wenn uns etwas auffällt, suchen wir das Gespräch und sagen ihm, dass es entweder sein Verhalten verändern muss oder die Sportart nichts für ihn ist.»
Bleuler betont stets, dass die Sicherheit bei ihm an oberster Stelle stehe: «Uns wurde deswegen schon vorgeworfen, militärisch streng zu sein. Aber wenn man erklärt, dass es um Sicherheit geht, versteht man das.»
Ein teurer Sport mit einem Gross-Sponsor
Seit der Aufnahme des Schiesssports beim Programm Jugend und Sport des Bundesamts für Sport vor zwei Jahren stellt der Nachwuchs sogar einen finanzieller Anreiz für die Vereine dar. Je mehr Kinder in den Schiesssport einsteigen, desto mehr Geld erhält der entsprechende Verein vom Bund.
Das finanzielle Problem jedoch bleibt: Die Sportgewehre haben sich entwickelt, die Reglemente schreiben Sportkleidung vor, dazu kommen die Kosten für die Munition – das Schiessen ist ein Sport, der für viele zu teuer geworden ist.
Ausserdem bleiben grosse private Sponsoren bislang aus. Dazu ist Sportschiessen schlicht zu wenig publikumswirksam. Aber auch wenn es den meisten schwer fallen würde, findet wenigsten René Dietzler darin einen positiven Aspekt: Ohne Sponsoren ist der Verein wenigstens unabhängig.
Über einen sehr wichtigen Sponsor verfügt der Schiesssport allerdings: das Militär. Zumindest in der Disziplin des 300-Meter-Sturmgewehrschiessens. Für jeden Teilnehmer der jährlichen, obligatorischen Schiessübungen erhält der Verein, der die Schiessanlage betreibt, acht Franken. Bei einer Armee von ca. 150 000 aktiven Soldaten bedeutet das einen jährlichen Unterstützungsbeitrag von über einer Million Franken an die Schweizer Schiesssportvereine. Und auch die Munition wird subventioniert.
Beim Sturmgewehr stehen den Puristen die Haare zu Berge
Ist eine militärkritische Haltung angesichts dieser finanziellen Unterstützung für einen Sturmgewehrschützen überhaupt vorstellbar? Bei Ueli Steiner jedenfalls ist der Fall klar. «Man versucht, die Armee zu reduzieren und zu reduzieren, womit auch die Unterstützung an die Schiesssportvereine wegfällt», sagt der Betriebsleiter der Schiesssportanlage Sichtern, der mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg hält. «Bei der vorletzten Abstimmung der Gruppe Schweiz ohne Armee vor acht Jahren habe ich einen Standpunkt für eine Zeitung geschrieben. Der letzte Satz lautete, dass die GSoA so wichtig und notwendig ist wie ein Blinddarm: Man braucht ihn nicht, und wenn er sich bemerkbar macht, kostet er nur noch Geld.»
Trotzdem: Auch wenn das Sturmgewehrschiessen eine der grössten Einnahmequellen der Schützenvereine darstellt, ist es dennoch nicht bei allen gleichermassen beliebt. «Das ist für mich kein Sport», lautet das Urteil des sportlichen Puristens René Dietzler. «Ein Sturmgewehr ab der Maschine hat ein Streufeld, das mir die Haare zu Berge stehen lässt. Wie will ich damit Sport betreiben, wenn es gar nicht perfekt schiessen kann?»