Die Fahrenden haben ein Imageproblem. Und wie bei jedem Imageproblem stellt sich die Frage, wer dafür verantwortlich ist: der Abgebildete oder die Abbildenden.
Die Situation könnte kaum gegensätzlicher sein: Auf der Berner Allmend sind unlängst Fahrende vertrieben worden, weil dieser Platz für andere «Fahrende», nämlich die automobilen Messebesucher der BEA, benötigt wurde. In der Folge haben sich die Vertriebenen, die fahren, aber nicht anhalten dürfen, in Nidau mit Gewalt (Vornschneidezange gegen Verschlusskette) Zugang zu einem unbenutzten Expo.02-Gelände verschafft, das in die Zuständigkeit der öffentlichen Gemeindegewalt gehört.
Diese Ereignisse rücken wieder einmal das schwierige Verhältnis unserer Mehrheitsgesellschaft zu dieser gesellschaftlichen Minderheit in den Fokus. Sie zeigen, wie strukturelle Diskriminierung, wenn sie nicht einfach hingenommen wird, in rechtswidriges Verhalten kippen kann. Die Schweizer Fahrenden haben es nicht leicht in ihrem beziehungsweise in unserem Land – umgekehrt ist es auch nicht einfach, eine angemessene Haltung ihnen gegenüber zu finden.
Campingplätze – für Fahrende verboten
Nicht einfach! Das muss es auch nicht sein. Gewiss wäre es einfacher, alle wären in Etagenwohnungen und Einzelhüsli wohnend sesshaft. Das ist die heutige Norm, und darum wird die traditionelle Mobilität, die früher zur Norm gehörte, abnormal und ausgegrenzt. Für das weiterbestehende Mobilitätsbedürfnis von heute Sesshaften werden mit grösster Selbstverständlichkeit Strassen und Parkplätze gebaut – sowie Campingplätze, von denen die Fahrenden ausgeschlossen bleiben!
Die Fahrenden haben Imageproblem. Und wie bei jedem Imageproblem stellt sich die Frage, wer dafür verantwortlich ist: der Abgebildete oder die Abbildenden. Die naheliegende Meinung, dass wahrscheinlich auf beiden Seiten Ursachen zu finden seien, könnte dazu verleiten, einen wesentlichen Punkt zu übersehen: Minderheiten sind generell, weil sie Minderheiten sind, dem Automatismus der negativen Verallgemeinerung ausgesetzt. Da können die Erfahrungen von konkreten Begegnungen (die in der Regel positiv verlaufen, aber zu selten vorkommen) die verwurzelten Vorstellungen nicht ausgleichen. Die Medien tragen einiges zur schiefen Wahrnehmung bei, es dominieren – wie im Falle von anderen Minderheiten – die Kommentare der Mehrheitsangehörigen, der Politiker, Beamten und Polizisten, während die Minderheit kaum eine eigene Stimme hat.
Wie können die sich solche Autos leisten?
So müssen die Fahrenden, wenn sie zu Wort kommen, stets betonen, dass sie keine Gänse stehlen, dass sie einen Beruf und ein Berufsethos haben, dass sie Schweizer Bürger (mit rotem Pass!) sind, dass sie ganz normal Steuern bezahlen, dass sie auf Durchgangsplätzen das bezogene Wasser sowie den Strom bezahlen, dass sie ihren Abfall mindestens so ordentlich entsorgen wie Sesshafte.
Selbst die Entwarnungen tragen indirekt etwas zur Problematisierung bei – wenn Gemeindeverantwortliche mit zwar nötigen, aber auch vielsagenden Erklärungen feststellen, dass man mit Fahrenden im Allgemeinen doch «gute Erfahrungen» mache. Alle s in allem wissen wir über die Probleme der Mehrheitsgesellschaft im Umgang mit Minderheiten mehr als über die Lebenswirklichkeiten der angeblichen «Problemverursacher». In diesem Punkt gleichen sich der Antiziganismus (Zigeunerfeindlichkeit) und der Antisemitismus.
Aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft geraten oft die tollen Autos und Anhänger («grossi Chäre») ins neidvolle Auge. Man fragt sich, wie diejenigen, die tendenziell als arme Schlucker eingestuft werden, sich so was leisten können. Wie und warum es Herr und Frau Schweizer zu einem Eigenheim gebracht haben, das fragt allerdings niemand.
Distanz zu «fremden Brüdern und Schwestern»
Zum Imageproblem tragen auch die Auswirkungen bei, die sich aus dem Transit von ausländischen Fahrenden ergeben. Diese verhalten sich zuweilen recht rücksichtslos, denn sie haben keinen Bezug zum Land und oft auch nicht vor, noch einmal wiederzukommen. Einen Extrembeleg dafür lieferte eine Roma-Hochzeitsgesellschaft mit 800 Leuten, die im Sommer 2012 im Unterwallis ohne Erlaubnis eine Wiese besetzte und einen grossen Abfallberg sowie Exkremente hinterliess.
Schweizer Fahrende wünschen sich neuerdings für sie reservierte Durchgangsplätze und distanzieren sich von ihren «fremden Brüdern und Schwestern». So verständlich das auch ist, die hier wiederkehrende Reproduktion des Bildes von den «guten Eigenen» und den «schlechten Anderen» muss nachdenklich stimmen. Es zeigt einmal mehr, dass diskriminierte Minderheiten – unter anderem wegen Mehrheitsdruck und Distanzierungszwang – geneigt sind, selbst erfahrene Diskriminierung an andere weiterzugeben.
Der Anspruch der Fahrenden auf Andersheit ist historisch gerechtfertigt.
Der Rechtfertigungsdiskurs, zu dem sich die Fahrenden gezwungen sehen, schwankt typischerweise zwischen dem doppelten Betonen des Gleichseins wie des Anspruchs auf Anderssein. Man kann sich darauf berufen, dass Menschenrechte und Grundrechte überall die gleichen seien und dass es kein Widerspruch ist, wenn das universale Gleichheitsprinzip (wie in Geschlechter- oder Altersfragen) auch den Anspruch auf Eigenheit und Andersheit einschliesst.
Der Anspruch auf Andersheit ist im Fall der Fahrenden nicht bloss universell begründet, sondern auch historisch gerechtfertigt. Er entspringt nicht einer Laune oder einem modischen Bedürfnis auf willkürlich und frei gewählt Differenz und Identität. Die Fahrenden sind kein Verein von Rahmdeckeli-Sammlern.
Kein Platz im Zonenplan
Die Fahrenden hat es schon vor der Schweiz gegeben, sie leben, wie man sagt als «autochthone» Gruppe eine Jahrhunderte alte Tradition wie andere Minderheiten auf anderen Flecken der Erde. Die Schweiz aber und die Welt verändern sich laufend zum Nachteil der Altbestände der Bevölkerung, weil die Räume, in denen sie ihre spezifische Lebensweise praktizieren können, rasant liquidiert werden. Wenn wir die Andersheit der Fahrenden respektieren, wird man nicht nur ihnen gerecht, man tut auch sich selbst etwas Gutes, weil dadurch die stets vorhandene Tendenz zur Verabsolutierung des eigenen Lebens leicht gebrochen wird. Zu was Verabsolutierung führen kann, zeigt der bis 1972 betriebene brutale Umgang mit den «Kindern der Landstrasse», die den Eltern von der Pro Juventute weggenommen wurden, damit die zu ordentlichen Sesshaften würden.
Die für alle geltenden Bestimmungen werden aus der Interessenlage der Mehrheitsgesellschaft geschaffen, ohne lange Überlegungen, was das für Minderheiten bedeutet. So entsteht, was man strukturelle Diskriminierung nennt. Für die naturgemäss transkantonal arbeitenden Fahrenden haben zum Beispiel die kantonal definierten Gewerbebewilligungen zu unbeabsichtigten Erschwerungen geführt. Die aus allgemeiner Sicht richtigen Zonenordnungen verbieten den Bauern, fahrenden Miteidgenossen aufgrund privater Vereinbarungen Durchgangsplätze zu gewähren, und Fahrende dürfen aus dem gleichen Grund nicht einmal auf eigenem Boden in einem sogleich als Haus eingestuften Wohnwagen leben. Derweil blüht und expandiert die moderne Campingkultur. Wo mit den Behörden mühsam eine lebbare Ordnung gefunden wird, kann es – wie in Versoix (GE) im Juni 2000 – vorkommen, dass die lieben Stimmbürgerinnen und Stimmbürger ihre demokratischen Rechte dazu brauchen (oder missbrauchen), einer Minderheit eine Lebensnische mit bewusster Diskriminierung vorzuenthalten.
Konkrete Rechte statt Anerkennungsbekundungen
Kulturelle und politische Rechte beruten in der Schweiz auf dem Territorialitätsprinzip. Wer nicht über einen kompakten Raum (eine Talschaft, eine Region, einen Landesteil) verfügt, hat es schwer, sich Geltung zu verschaffen. Es gibt daher die Idee, die Jenischen quasi als 27. Kanton zu betrachten und ihnen dadurch eine eigene politische Vertretung zu ermöglichen. Nur: Auch wenn die rund 35’000 Jenischen der Schweiz der Einwohnerzahl eines kleinen Kantons entsprechen, so ist doch die Frage, wer zu diese Gruppe zu zählen ist, nicht zu klären.
Die Schweiz ist 1998 dem vom Europarat entwickelten Internationalen Rahmenabkommen zum Schutze nationaler Minderheiten beigetreten und hat der jenischen Sprache mit der Ratifizierung der europäischen Sprachencharta 1997 sogar den Status einer «territorial nicht gebundenen Sprache» gegeben.
Doch was bedeutet das konkret für die legitimen Lebensbedürfnisse der Fahrenden? Die meisten Anerkennungsbekundungen bleiben im Programmatischen stecken und begründen keine einforderbaren Rechte. Eine uneingelöste Erwartung ist, dass bei gewissen Diskriminierungsfragen die Beweislast umgekehrt würde, das heisst die Nichtbenachteiligung statt die Benachteiligung belegt werden müsste. Die Fahrenden haben aus der akuten Durchgangsplatz-Problematik – mehr getrieben als gewollt – wieder einmal von sich reden gemacht. Doch den Worten sollten nun Taten folgen.