Alle Jahre wieder: Die Niederländer streiten darüber, wie rassistisch ein Weihnachtsbrauch sein darf.
Pfeffernüsse, Sinterklaas-Lieder, Rassismus-Streit. Die alljährliche Debatte um Zwarte Piet, den schwarz geschminkten Helfer des niederländischen Nikolaus, hat dieses Jahr einen Höhepunkt erreicht. Noch nie erhielten die verschiedenen Antirassismus-Organisationen so viele Klagen wie in den letzten Wochen. Anders als in den vorangehenden Jahren waren es diesmal aber nicht die dunkelhäutigen Niederländer, die sich beschwerten, sondern die weissen. Sie fühlen sich im eigenen Lande diskriminiert, zu Unrecht als Rassisten abgestempelt, und fürchten, dass man ihnen ihre Tradition wegnimmt.
Grund dafür ist eine Expertenkommission der Vereinten Nationen, die bei der Regierung in Den Haag Aufklärung über die Bräuche zum Nikolaustag verlangt hat. Zwarte Piet, der Nikolaus-Helfer mit den dicken, roten Lippen, den kreolischen Ohrringen und der schwarzen Kraushaar-Perücke werde als Dummkopf und Diener sowie als negatives Stereotyp afrikanischer Menschen dargestellt, kritisierten die Menschenrechtsexperten. Für die Vorsitzende der Kommission, Verene Shepherd, stand schon vor Beginn der Untersuchungen fest: Zwarte Piet gehört abgeschafft, mitsamt seinem sklaventreibenden Chef Sinterklaas.
Eine radikale Forderung, denn der Sinterklaas-Brauch ist für die Niederländer viel wichtiger als Weihnachten. Die Vorfreude beginnt bereits mit dem traditionellen Einzug Mitte November, wenn der weisse Bischof mit dem Dampfschiff in den Niederlanden ankommt. Zehntausende pilgern jährlich zum Umzug, bei dem Sinterklaas auf seinem Schimmel durch die Strassen reitet, während seine lustigen Helfer Pfeffernüsse streuen, Räder schlagen und allerlei Unsinn veranstalten. In den folgenden Wochen wird nach Herzenslust Spekulatius gegessen und es werden Sinterklaas-Lieder gesungen, bis die Pieten bei der grossen Bescherung am Vorabend des 5. Dezember die Geschenke austeilen und sich mit Sinterklaas wieder aufmachen – nach Spanien, wie die Legende besagt.
Unklare Herkunft
Mit Rassismus, da sind sich die meisten Niederländer einig, hat das Ganze überhaupt nichts zu tun. Schliesslich ist der lustige Piet bei vielen Kindern doch weit beliebter als sein zwar sehr gütiger, aber eben doch auch etwas langweiliger Arbeitgeber. Schwarz sei Piet zudem nur deshalb, weil er nachts durch die Schornsteine krieche, um den Kindern die Schuhe mit Süssigkeiten zu füllen.
Wenig erstaunlich also, dass Shepherds Äusserungen einen Sturm des Protestes auslösten. Gut 500 Menschen demonstrierten Anfang November in Den Haag gegen die Vereinten Nationen und für Zwarte Piet. Eine Facebook-Seite des Nikolaus-Helfers erhielt innerhalb von 24 Stunden mehr als eine Million Likes. Laut aktuellen Umfragen wollen mehr als 90 Prozent der Niederländer Zwarte Piet behalten, und zwar genauso wie er ist. Das Ganze sei schliesslich nicht böse gemeint.
«Die Niederländer sind dermassen überzeugt von der eigenen Offenheit und Toleranz, dass nichts, was sie tun, in ihren Augen je rassistisch sein könnte», meint Quinsy Gario. Der 29-jährige Künstler, der von den niederländischen Antillen stammt, versucht seit Jahren, die Niederländer davon zu überzeugen, dass ihr beliebtestes Kinderfest – wenn auch unbewusst – viele Menschen ausschliesst und verletzt. Mit Kunstprojekten, friedlichen Protestaktionen und in seiner eigenen Radio-Show. Er ist derzeit der prominenteste der Piet-Gegner, längst aber nicht der erste. Bereits in den frühen 1960er-Jahren beschwerten sich einige über die stereotypen Merkmale des Zwarte Piet.
Rassismus, sagt Quinsy Gario, sei in den Niederlanden auch heute noch an der Tagesordnung.
Unklar ist bisher die Herkunft der Figur. Einige Quellen behaupten, der dunkle Begleiter des weissen Bischofs entstamme einem heidnischen Brauch. Andere behaupten, dass er in seiner heutigen Form erstmals im Buch «Sinterklaas und sein Meister» von Jan Schenkman aufgetaucht sei. Das war 1850, rund 13 Jahre bevor die Niederlanden als letzter europäischer Staat offiziell die Sklaverei abschafften. An die Kolonialzeit erinnern auch die bunten Kostüme der Pieten, die verblüffende Ähnlichkeit mit den Pagen-Kostümen aufweisen, die früher die schwarzen Kindersklaven der reichen Herrenhäuser trugen.
Dennoch stossen die Gegner auf pures Unverständnis. Für Gario sind die Wochen vor Sinterklaas, in denen Zwarte Piet in den Medien und auf den Strassen allgegenwärtig ist, die unangenehmsten des Jahres. Er lebt in dieser Zeit zurückgezogen, wurde bereits mehrmals mit dem Tode bedroht. Rassismus, meint der Künstler, sei in den Niederlanden auch heute noch an der Tagesordnung. «Dunkelhäutige Menschen haben weniger Chancen auf dem Arbeitsmarkt und werden häufiger von der Polizei kontrolliert. Sogar in die Diskotheken kommt man eher rein, wenn man weiss ist.»
Eine aktuelle Studie des Europarats gibt Gario Recht. «Die niederländische Regierung muss mehr tun, um die Diskriminierung in der Gesellschaft zu bekämpfen», hiess es dort.
Drohungen an UNO-Experten
Selten war dieser unterschwellige Rassismus so sichtbar wie in den letzten Wochen. Wer es, wie etwa die populäre Sängerin Anouk, wagte die Tradition in Frage zu stellen, wurde öffentlich durch den Schmutz gezogen. «Verzieh dich doch mit diesem Asylanten in sein Herkunftsland, weisse Negerhure!», polterten Leute auf der Facebook-Seite des Popstars. Ein Sinterklaas-Verein, der seine Pieten dieses Jahr bunt statt schwarz schminken wollte, zog den Vorschlag nach Dutzenden von Drohungen wieder zurück. Selbst die UNO-Experten wurden von den wütenden Niederländern bedroht.
Die heftigen Reaktionen befremden zahlreiche Niederländer. So entschieden sich beim diesjährigen Sinterklaas-Einzug in Amsterdam auffällig viele Eltern dafür, ihre Kinder überhaupt nicht oder zumindest bunt statt schwarz zu schminken. Bei den zahlreichen Anti-Piet-Demonstrationen der letzten Wochen schlossen sich immer häufiger auch weisse Niederländer an. «Zwarte Piet ist nicht rassistisch, die Reaktionen auf ihn aber schon. Deshalb bin ich nun für eine schrittweise Anpassung», liess etwa die vormalige Leiterin Femke Halsema der progressiven GroenLinks-Partei via Twitter verlauten.
Wie Halsema plädieren immer mehr Niederländer dafür, die Pieten von ihrem stereotypen Charakter zu befreien. Amsterdam machte dieses Jahr einen ersten Schritt in diese Richtung und verbot den Pieten, die symbolträchtigen goldenen Ohrringe zu tragen. Auch der Vorschlag, bunte oder russbeschmierte Pieten auftreten zu lassen, sind ein viel gehörter Lösungsansatz. Solche Aktionen seien sinnlos, meint Gario, «auch damit suggeriert man, dass die Weissen allen anderen überlegen sind.»
Die UNO-Expertengruppe hat ihre Untersuchungen mittlerweile abgeschlossen und die niederländische Regierung aufgerufen, eine öffentliche Debatte anzuregen. Ein Ratschlag, der noch am gleichen Tag in den Wind geschlagen wurde. «Die Debatte sei ja längst im Gange», meinte der Minister für Soziales, Lodewijk Asscher.
Und diese wird Jahr für Jahr vehementer. Grund dafür ist laut dem Sozialhistoriker und Kolumnisten Zihni Özdil eine neue Generation unabhängiger, kritischer Denker mit Migrationshintergrund, die sich via soziale Medien zu Wort melden. Sie weigern sich, die geltenden Normen schweigend zu akzeptieren. Zwarte Piet wird so auch zum Symbol des Widerstands: Mit dem Angriff auf die umstrittene Figur werden allgemeingültige Werte hinterfragt und einem Tauglichkeitstest unterzogen.
Die Niederländer werden sich wohl oder übel an den Gedanken gewöhnen müssen, dass ihr Zwarte Piet in einigen Jahren vermutlich anders aussehen wird, glaubt Zihni Özdil. Die Kritik an diesem Brauch wird zwar auch dieses Jahr wieder verstummen, sobald das Geschenkpapier entsorgt und Piet wieder in Spanien ist. Nächstes Jahr wird die Debatte aber erneut entbrennen. Und zwar in aller Heftigkeit.
Artikelgeschichte
Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 06.12.13